In unserem neuen Dossier „Virtuelles Gedenken: zwischen bewahren und bewegen“ wollen wir verschiedene Formate und Projekte vorstellen, die sich auf vielfältige Weise dem Erinnern, Mahnen und Schützen verschrieben haben. Einige von ihnen widmen sich dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus und leiten aus den damaligen Verbrechen eine besondere Verantwortung für (die Gestaltung von) Gegenwart und Zukunft ab. Andere haben sich jüngerem Geschehen zugewendet, erinnern an Opfer, warnen vor Gefahren für Demokratie und Gesellschaft und entwickeln Maßnahmen der (politischen) Bildung.
Die Vorstellung von Projekten und Initiativen soll durch eine Interviewreihe mit Menschen aus der Forschung sowie denjenigen bereichert werden, die diese Maßnahmen initiieren und begleiten.
Den Anfang macht ein Beitrag über aktuelle Initiativen und Projekte zum Gedenken an die Opfer des Holocaust.
Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Im Mai 2021 jährte sich das Kriegsende somit im 76. Jahr, was ungefähr einem Menschenleben entspricht. Die Großeltern heutiger Schülerinnen und Schüler waren im Zweiten Weltkrieg selber noch Kinder oder noch gar nicht geboren und somit fehlen nach und nach persönliche Bilder und Stimmen, die in den Familien, aber auch in Schulen aus dieser bedrohlichen und für viele Menschen tödlichen Zeit berichten können. Im Gedenken und Mahnen spielen jedoch Opfer des Nationalsozialismus, die das Grauen überlebt haben, eine wichtige Rolle. Zeitzeugen, die über das Unvorstellbare erzählen und es den Zuhörenden nahezu unmöglich machen, zu relativieren und herunterzuspielen.
Der Verlust von Zeitzeugen ist in erster Linie selbstverständlich ein persönlicher Verlust für die zurückbleibenden Familien, jedoch hat er ebenso zur Folge, dass das weiterhin notwendige Mahnen und Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland zentrale Botschafter verliert. Da man diese Entwicklung aber leider nicht aufhalten kann, bedarf es neuer Wege der Erinnerung und Aufklärung.
Die Deutsche Welle berichtete über die (virtuellen) Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der KZ-Befreiungen.
Als sich die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau zum 75. Mal jährte, machte zudem die Pandemie eine Gedenkveranstaltung in Präsenz unmöglich. So war man gezwungen, virtuell zu erinnern – ein digitaler Versuch, Erinnerungskultur aufrechtzuerhalten und der Geschichte weiterhin Gesichter und Stimmen zu verleihen. Zentraler Bestandteil des virtuellen Gedenkens sind sicherlich die Grußworte von Überlebenden und Befreiern. Besonders hervorzuheben sind die Initiativen der Gedenkstätten Bergen-Belsen, Buchenwald und Flossenbürg. Auch das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma gedachte gemeinsam mit Initiativen der Gedenkstätte mithilfe zeitgemäßer Formate der Opfer des Holocaust und tat dies auch 2021 aufgrund der andauernden Pandemie in Form einer virtuellen Gedenkveranstaltung.
Dass dies aktuell und künftig notwendig ist und sein wird, zeigt unter anderem die Jahresbilanz Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias). Die Recherchestelle erfasste im vergangenen Jahr 1.253 antisemitische Vorfälle wie Beleidigungen, Bedrohungen und Angriffe, das sind 13% mehr als im Jahr 2019. Die Studie geht zudem davon aus, dass man von einem sehr großen Dunkelfeld an nicht bekannt gewordenen Taten ausgehen muss und viele Übergriffe und Beleidigungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und den dazu gehörigen Protestveranstaltungen stehen. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. wurde am 31. Oktober 2018 in Berlin gegründet. Zielsetzung ist die Gewährleistung einer bundesweit einheitlichen zivilgesellschaftlichen Erfassung und Dokumentation antisemitischer Vorfälle mit Hilfe des Meldeportals www.report-antisemitism.de.
Deutschlandfunk Kultur beschäftigt sich mit den Möglichkeiten und Grenzen des virtuellen Gedenkens im Beitrag „Neue Wege des Erinnerns„.
Unter dem Titel „Bald sprechen nur noch die Quellen“ befragte Christian Staas / Die ZEIT die Historikerin Susanne Heim zum Projekt „Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden“.
Aufklärung bleibt somit wichtig, um gegen Antisemitismus in Deutschland anzuarbeiten und die Aufmerksamkeit in der Gesellschaft zu schärfen. Wir brauchen Projekte und Initiativen, die erinnern und Gefahren in der heutigen Zeit aufzeigen. Und das Ganze in einem möglichst greifbaren und zeitgemäßem Gewand, um möglichst viele Bevölkerungsgruppen anzusprechen.
Im Folgenden stellen wir ein paar ausgewählte Projekte vor, die über die Zeit des Nationalsozialismus aufklären und zeitgemäße mediale Wege gehen, wie über Instagram und Youtube.
„Zeitzeugen und Pädagogik“ ist eine Serie von Zeitzeugenfilmen, in welcher Überlebende die Geschichte ihres Lebens erzählen.
Die Internationale Schule für Holocaust-Studien (ISHS)
Die Internationale Schule für Holocaust-Studien (ISHS) wurde im Jahre 1993 in Jerusalem gegründet, um die Geschichte des Holocaust pädagogisch aufzuarbeiten. Sie bietet seither ein umfangreiches Angebot an Fortbildungen für Pädagoginnen und Pädagogen aus aller Welt an, mit dem Schwerpunkt der Entwicklung von Unterrichtsmaterialien für den Einsatz sowohl in Grund- als auch in weiterführenden Schulen. Die Materialien werden in verschiedenen Sprachen erarbeitet und produziert und in Form moderner Medien umgesetzt. So bietet die ISHS viele Materialien als Download im Internet an, zahlreiche Lernprogramme stehen als Multimedia-Pakete zur Verfügung und neue Kommunikations- und Lernformen wie Internet-Fortbildungen oder Videokonferenzen werden erprobt.
ANNE FRANK ZENTRUM E.V.
Das Anne Frank Zentrum, mit Sitz in Berlin, ist die deutsche Partnerorganisation des Anne Frank Hauses in Amsterdam. Mit Ausstellungen und Bildungsangeboten erinnert das Zentrum an Anne Frank und ihr Tagebuch. Die Angebote bieten Lernorte, in denen sich Kinder und Jugendliche mit Geschichte auseinandersetzen und diese mit ihrer heutigen Lebenswelt verbinden. Die jungen Besucherinnen und Besucher lernen so, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und sich für Freiheit, Gleichberechtigung und Demokratie zu engagieren. Das Anne Frank Zentrum zeigt zudem eine ständige Ausstellung in Berlin und Wanderausstellungen in ganz Deutschland und setzt bundesweit Projekte um, entwickelt Materialien zur Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust sowie mit Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung heute. Darunter finden sich auch digitale Materialien wie das Anne Frank Video-Tagebuch. Dieses wurde gemeinsam mit Every Media entwickelt und ist eine Videoreihe, die auf Anne Franks Tagebuch basiert, welches durch die 13jährige Luna Cruz Perez dargestellt wird und mit deutschen Untertiteln angeschaut werden kann.
The USC Shoah Foundation – The Institute for Visual History and Education
Das Institut wurde 1994 von Steven Spielberg gegründet mit dem Ziel, Interviews mit Überlebenden des Holocaust und anderen Zeugen aufzuzeichnen und zu bewahren. Inzwischen gibt es fast 55.000 audiovisuelle Zeugenaussagen – aus 65 Ländern und in 43 Sprachen. Die daraus entstandenen Videoproduktionen dauern im Durchschnitt mehr als zwei Stunden und umfassen ganze Lebensgeschichten, die Lebensstationen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg schildern. Neben den Videoproduktionen mit Zeitzeugen arbeitet das Institut unter anderem auch mit Künstlerinnen und Künstlern sowie Geschichtenerzählern zusammen, die in Podcasts Geschichten von Überlebenden erzählen.
The Lonka Project
Das Lonka-Projekt ist eine fotografische Hommage an die letzten Überlebenden des Holocaust bei uns heute. 250 professionelle Fotografen haben im Laufe des Jahres 2019 in 26 Ländern Holocaust-Überlebende in ganz unterschiedlichen, zur jeweiligen Person passenden, Kontexten in Bildern festgehalten. Aus diesen Aufnahmen sind eine künstlerische Ausstellung und ein Buch entstanden, welche im Januar 2020 zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz veröffentlicht wurden. Das Lonka-Projekt wurde in Jerusalem von Jim Hollander und Rina Castelnuovo als Hommage an Rinas Mutter Lonka, Dr. Eleonora Nass (1926-2018), initiiert.
Bei Deutschlandfunkkultur findet sich eine Reportage über einen Schulbesuch junger Zweitzeugen.
ZWEITZEUGEN e.V.
Der gemeinnützige Verein ZWEITZEUGEN e.V. wurde 2020 – zunächst unter dem Titel HEIMATSUCHER e.V. – gegründet. Zielsetzung war und ist es, junge Menschen zu ermutigen, Lebensgeschichten von Überlebenden des Holocaust zu erfahren und weiterzugeben, sprich als Zweitzeugen zu fungieren. Basis sind Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Holocaust, die die Zeit des Nationalsozialismus dokumentieren. Der Verein erzählt die Überlebensgeschichten in Workshops, Ausstellungen, Veranstaltungen und Magazinen sowie auch online über die eigene Website, Facebook, Youtube, Instagram und Twitter. Die jungen Zweitzeugen gehen stellvertretend für die Zeitzeugen in Schulen, erzählen die Lebensgeschichten und sensibilisieren auf diese Art und Weise für Antisemitismus und Rassismus – auch in der jetzigen Zeit.
Auf der Website des SWR finden sich Stimmen zum Projekt von ausgewählten Beteiligten.
Ich bin Sophie Scholl/Instagram
Einen anderen Weg des Gedenkens im medialen Bereich geht das Instagram-Projekt „Ich bin Sophie Scholl“ des SWR und BR. Dieses entstand anlässlich ihres 100. Geburtstags am 9. Mai und holt mithilfe von Schauspieler(inne)n die Widerstandskämpferin aus den Geschichtsbüchern ins Hier und Jetzt. Gespielt wird Sophie Scholl von Luna Wedler, die die Userinnen und User in nachempfundener Echtzeit an den letzten zehn Monaten ihres Lebens teilhaben lässt. Basis der mit Filmsequenzen, Fotomaterialien und Texten erzählten Story auf Instagram sind die Briefe und Aufzeichnungen, die Sophie Scholl von Ende 1937 bis zu ihrer Hinrichtung schrieb. Der Kanal @ichbinsophiescholl weist dabei deutlich darauf hin, dass es sich um Fiktion handelt, die sich allerdings an wahren Begebenheiten orientiert. Zudem erläutern die Macherinnen, dass bei historischen Lücken und Unklarheiten fiktive Erzählstränge – in Abstimmung mit den mitwirkenden Expertinnen und Experten – eingebaut wurden, um eine zusammenhängende Erzählweise ermöglichen zu können. Somit wird das Ergebnis als eine fiktionale Interpretation einer historischen Figur bezeichnet.
Dies ist selbstverständlich nur eine kleine Auswahl zeitgemäßer Initiativen und Projekte. Allen gemeinsam ist das Bestreben, ein würdevolles Gedenken an Menschen aufrecht zu erhalten, die unfassbares Unrecht und Leid erlitten haben. Gleichzeitig geht es immer darum aufzuklären, Gefahren von rechts in der heutigen Gesellschaft deutlich zu machen und Menschen zu ermutigen, gegen Vorurteile, Ausgrenzung und Hass anzugehen – in dem Wissen, wohin Ignoranz und Rechtspopulismus führen können. Wie eingangs angekündigt wird das Dossier „Virtuelles Gedenken: zwischen bewahren und bewegen“ in den kommenden Wochen wachsen und sich auch dem jüngeren Geschehen zuwenden.