Kann jeder ein Zeuge von Auschwitz werden?
Ein Gespräch mit Steffi de Jong über simulierte Zeugenschaft, die Illusion der Realität und radikales Mitgefühl, das nicht in den Albtraum eintauchen will, sondern in respektvoller Distanz zum historischen Ereignis verweilt.
Dr. Steffi de Jong hat sich im Rahmen der 6. Förderphase des Grimme-Forschungskollegs von Januar bis Dezember 2020 mit digitalen Rekonstruktionen von Konzentrations- und Vernichtungslagern beschäftigt und VR-Entwickler nach den dahinterliegenden Konzepten befragt. Ihr Fokus liegt auf der emotionalen und körperlichen Immersion der Nutzerin*innen in den historischen Ort des Lagers oder sogar in die Erlebnisse eines Opfers. Diese werden dabei selbst zu einer neuen Art von Zeug*innen der historischen Ereignisse. Aus dieser Arbeit ist ein Aufsatz entstanden, der im März 2023 unter dem Titel „The Simulated Witness. Empathy and Embodiment in VR Experiences of former Nazi Concentration and Extermination Camps” in der Zeitschrift “History & Memory” erscheint. Eine leicht gekürzte, deutsche, Version des Artikels erscheint im Mai 2023 in der Zeitschrift „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung“. Darin diskutiert de Jong den Einsatz von Virtual Reality in der Holocaust-Erinnerung und die Frage, wie digitale Technologien die Vorstellungen der Zeugenschaft des Holocaust durch die Simulation der primären Zeugenschaft, des unmittelbaren Erlebens, verändern.
1. Frau de Jong, bitte stellen Sie sich und Ihre Arbeit an der Universität zu Köln vor.
Ich habe Theaterwissenschaften, Englische Literatur und Europawissenschaften in London, Maastricht und Krakau studiert. Während meines Studiums wurde mein Interesse an Erinnerungskulturen geweckt. In meiner Masterarbeit habe ich die Entwicklung von Europamuseen analysiert – das heißt, Museen, die im Sinne von Nationalmuseen, aber mit einem europäischen Fokus, eine paneuropäische Geschichte zu erzählen versuchen. Das war damals ein sehr aktuelles Thema. In meiner Doktorarbeit, die ich an der NTNU in Trondheim verteidigt habe, habe ich mir dann die Darstellung von Videozeugnissen in Museen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust angesehen. Seitdem beschäftige ich mich in meiner Forschung vor allem mit Erinnerungskulturen und Public History, das heißt mit Fragen danach, wie Menschen sich an historische Ereignisse erinnern und wie sie die Vergangenheit darstellen und vermitteln. Zurzeit arbeite ich an einem Projekt zu performativen Geschichtsdarstellungen im 19. Jahrhundert, die als Vorläufer des modernen Re-enactments gelten können.
2. Bitte stellen Sie Ihr Forschungsprojekt „The Simulated Witness. Empathy and Embodiment in VR Experiences of former Nazi Concentration and Extermination Camps” vor. Was sind Ihre leitenden Forschungsfragen? Haben sich diese im Laufe Ihres Projekts verändert?
Ich habe mir in diesem Projekt Darstellungen von ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagern in VR angesehen. Davon gibt es zurzeit etwa sechs. Die meisten davon befinden sich jedoch noch in der Entwicklungsphase oder sind auf Grund fehlender Finanzierungen zum Stillstand gekommen. Mich interessierten dabei Fragen nach Zeugenschaft, der Veränderung von Erinnerungskulturen sowie Mediatisierung und Remediatisierung. VR wird oft als die lange erwartete Zeitmaschine angeworben. Was heißt das aber, wenn wir virtuell quasi zu Zeug*innen historischer Ereignisse werden sollen? Ändert sich so die Erinnerungskultur an den Holocaust? Welche bereits vorhandenen medialen Repräsentationen der Lager finden sich in den VR-Anwendungen wieder?
3. Wodurch zeichnen sich VR-Technologien, die Sie untersucht haben, aus? Welchen Unterschied machen sie zu den bisherigen Darstellungsformen?
Die VR-Technologie zeichnet sich generell dadurch aus, dass sie es der Nutzer*in erlaubt, in einen digitalen Raum einzutauchen. VR-Entwickler*innen sprechen hier von Immersion und Präsenz. Immersion beschreibt dabei das Medium, also zum Beispiel das Head Mounted Display, umgangssprachlich VR-Brille genannt, das zusammen mit Controllern oder einem Body Suit genutzt werden kann. Aber z. B. auch das Ausblenden von Außengeräuschen und die Konzentration auf sogenannte diegetische Klänge, also Klänge, die aus der Anwendung selbst kommen, können zu Immersion beitragen. Präsenz wiederum beschreibt das Gefühl der Nutzer*in, ganz in der virtuellen Realität zugegen zu sein. Präsenz zu erzeugen ist ein Ziel von VR-Entwickler*innen. Generell gilt: Je mehr Sinne angesprochen werden und je eher es gelingt, die äußere Welt durch immersive Technologien auszublenden, desto intensiver wird die Präsenz der Nutzer*innen sein. Nun gab es natürlich auch vor VR bereits immersive Medien. Als Vorläufer werden häufig z. B. die Dioramen und Panoramen des 19. Jahrhunderts genannt. Allerdings wird mit VR eine neue Dimension der Immersion erreicht. Diese Möglichkeit, die Nutzer*in in eine alternative Wirklichkeit zu versetzen, ist es, was VR von anderen Medien unterscheidet.
4. Wenn Immersion und Präsenzerleben das Ziel von VR-Projekten sind, worin liegt Ihrer Meinung nach der Erkenntnisgewinn dieser Betrachtungsweise? Wie verändert sich die Erinnerung an den Holocaust durch den Einsatz von VR/AR?
Wenn wir das Beispiel der von mir analysierten Darstellungen von Konzentrations- und Vernichtungslagern nehmen, so lässt sich VR z. B. dazu nutzen, verschiedenen Hypothesen davon nachzugehen, wie das Lager zu unterschiedlichen Zeitpunkten ausgesehen haben könnte. In VR werden Distanzen und räumliche Dimensionen besser sichtbar, und vor allem erlebbar, als zum Beispiel auf einer Karte oder in einem Modell. Die Archäologie nutzt VR schon lange zur Überprüfung von Hypothesen bezüglich Raum und architektonischer Details. Eines der von mir analysierten Modelle, das Modell des bayerischen Landeskriminalamtes, wiederum wurde dazu genutzt, Aussagen angeklagter ehemaliger SS-Männer zu überprüfen. Ist es wirklich wahr, dass der Angeklagte, wie er behauptet, von dort, wo er stand, nichts gesehen haben konnte oder wusste er vielleicht doch ganz genau, welche Verbrechen begangen wurden?
Wie sich die Erinnerung tatsächlich ändern wird, ist schwer zu sagen. Das hängt auch davon ab, wie genau VR eingesetzt werden wird. Momentan befinden wir uns ja noch ganz am Anfang einer Entwicklung. Ich habe die Hypothese, dass die Erinnerung durch den Einsatz von VR immersiver und körperlicher werden wird. Mit VR kann ich mich in Räume und Situationen hineinbegeben, die ich dann sozusagen am eigenen Leibe erfahre. Neuropsychologische Forschungen deuten daraufhin, dass unser Gehirn die virtuelle Realität wie die wirkliche Realität verarbeitet – oder das, was wir dafür halten. Erfahrungen, die wir in der virtuellen Realität machen, finden z. B. Zugang zu unserem biographischen Gedächtnis. Dieser Effekt wird bereits in einigen Therapiekontexten genutzt – wie zum Beispiel bei Schlaganfallpatient*innen, die in VR wieder lernen, ihre Glieder zu bewegen. Potenziell können in VR also fremde Erfahrungen zu eigenen Erfahrungen werden – und damit wiederum zu eigenen Erinnerungen. Es kommt dabei aber stark darauf an, was ich in der virtuellen Realität erlebe. Einige der VR-Projekte, die ich analysiert habe, wollen die Nutzer*innen quasi einige Erfahrungen der Opfer in VR nachempfinden lassen. Diese Herangehensweise birgt mehrere Probleme, auf die ich noch eingehen werde. Eine Nachstellung vergangener Ereignisse ist aber auf keinen Fall die einzige Option, die VR bietet. Es gibt zum Beispiel VR-Anwendungen, die eine künstlerische Herangehensweise an historische Themen haben, so zum Beispiel Easter Rising: Voice of a Rebel (2016) über die Osteraufstände 1916 in Dublin. Dann fühle ich mich nach wie vor in der virtuellen Realität präsent – aber eben nicht in einer Realität, die mir vorgaukelt, eine genaue Kopie der tatsächlichen, vergangenen Realität zu sein.
5. Worin tauchen Nutzer*innen da eigentlich ein [wenn ein Wachmann mit Taschenlampe das Gewehr auf den Besucher richtet]? Sind es nicht die Albträume der Überlebenden und ihre lebenslangen Versuche, ihnen zu entrinnen?
Einige Entwickler*innen versuchen, die Nutzer*innen in die Situation eines Opfers des Holocaust zu versetzen, und lassen sie Erfahrungen machen, die viele Opfer auch gehabt haben werden: also beispielweise die Nacht in einer Baracke zu verbringen und mit einem Wachmann konfrontiert zu werden. Dahinter steckt erst einmal eine gute Absicht, nämlich der Gedanke, dass Menschen sich, wenn sie eine Ungerechtigkeit am eigenen Leib erfahren haben, besser in eine andere Person, der das Gleiche widerfahren ist, hineinversetzen können. Es gibt bei einigen VR-Entwickler*innen die Idee, dass VR eine Empathie-Maschine sei – eben, weil die virtuelle Realität es erlaubt, Nutzer*innen in fremde Wirklichkeiten zu versetzen. Es sind bisher bereits einige VR-Anwendungen entwickelt worden, die die Nutzer*innen in die Situation eines weniger privilegierten Menschen versetzen – also beispielweise einer obdachlosen Person oder einer Person mit dunklerer Hautfarbe oder eines Gefangenen in Einzelhaft.
Allerdings ist dieses Verständnis von Empathie, das davon ausgeht, dass jemand nur Mitgefühl haben kann, wenn sie oder er genau dasselbe durchlitten habe wie jemand anderes, ein sehr kurz gedachtes. (Mal abgesehen davon, dass ein Erlebnis in der Virtuellen Realität, bei dem das Leben der Nutzer*in ja nie wirklich in Gefahr ist und sie dies auch weiß, nie eine exakte Wiederholung eines lebensgefährdenden Erlebnisses sein kann.) Die Emotionsforscherin Sara Ahmed hat Empathie mal als „wish feeling“ bezeichnet – als Wunschgefühl. Ich kann nie genau nachempfinden, was jemand anderes empfunden hat. Eine Ethik des Schmerzes besteht für sie deshalb darin, zu handeln, obwohl ich nicht verstehen kann, was jemand anderes durchleidet oder durchlitten hat. Davon abgesehen stellt sich auch die Frage, wieso jemand eigentlich eine Erfahrung der Haft in einem Konzentrationslager nachempfinden wollen würde. Ich kann ja heilfroh darüber sein, dass ich diese traumatisierenden Erfahrungen nicht machen musste. Und wenn wir von Traumata reden: Wenn die virtuelle Realität wie Realität verarbeitet wird, dann besteht durchaus potentiell die Gefahr, dass jemand in VR traumatisiert werden kann.
6. Wie gehen die von Ihnen untersuchten VR-Projekte mit Wissenslücken und Leerstellen, jüdischem Widerstand, dem Fehlen von Zeugenschaft und Zeugnissen um? Wird das thematisiert?
Wissenslücken werden bisher kaum thematisiert. Tatsächlich zeigen die Projekte z. B. fotorealistische Rekonstruktionen der Lager. Damit wird suggeriert, dass die Macher*innen genau wissen, wie das Lager ausgesehen hat. Tatsächlich gibt es natürlich immer Wissenslücken. Diese werden allerdings nicht kenntlich gemacht. Das könnte zum Beispiel damit erreicht werden, dass der Fotorealismus immer wieder gebrochen würde, oder dass man den Produktionsprozess offen legt. Dies wäre übrigens auch in Übereinstimmung mit den Leitsätzen der Londoner Charta für die computergestützte Visualisierung von kulturellem Erbe von 2009 sowie den Sevilla-Prinzipien für digitale Archäologie von 2016.
Der jüdische Widerstand kommt meines Wissens noch nicht vor. Dabei muss man aber auch bedenken, dass sich die meisten Projekte noch im Entwicklungsstadium befinden. Auschwitz VR, ein für die Auschwitz-Birkenau Foundation mitentwickeltes Projekt, wird in Kürze veröffentlicht werden und es würde mich sehr wundern, wenn der Sonderkommandoaufstand dort nicht thematisiert werden wird. Ich gehe auch davon aus, dass der jüdische Widerstand in Zukunft Thema von VR-Anwendungen sein wird, da es sich um sehr spektakuläre Geschichten handelt. Noch sind das aber natürlich reine Spekulationen.
7. Warum hält man an dem Konzept des Zeug*innen fest? Warum greift man nicht auf die Unmittelbarkeit der Quellen zurück, die bereits während der Verfolgung entstanden sind und teilweise ein ganz anderes Bild der Ereignisse zeichnen, als es die späteren Zeug*innen tun?
Für die Entwicklung der VR-Anwendungen wurde tatsächlich eher auf Quellen zurückgegriffen, die während der Verfolgung entstanden sind: Fotografien, schriftliche Quellen, Karten, architektonische Überreste am historischen Ort, archäologische Funde usw. Zeitzeug*innenberichte spielten dabei gar keine große Rolle. Allerdings ist historische Arbeit – selbst, wenn es sich um die Entwicklung einer VR-Anwendung von Nicht-Historiker*innen handelt – ja immer eine, bei der unterschiedliche Quellentypen herangezogen werden. Zeitzeug*innenberichte schließen häufig dort Lücken, wo andere Quellen schweigen.
Was ich in meinem Aufsatz damit meine, wenn ich sage, dass man am Konzept der Zeug*in festhält, ist, dass sich die Erinnerungskultur seit Jahrzehnten sehr stark auf die Zeugnisse von Überlebenden stützt und dieser Trend in den VR-Anwendungen weitergeführt wird. Mit dem Eichmannprozess wurde die Überlebende zu dem, was die Historikerin Annette Wieviorka einen „homme mémoire“ genannt hat, einen Erinnerungsmenschen, eine Trägerin von Erinnerung. Mit dem Fortunoff Archive for Holocaust Testimonies, welches 1979 gegründet wurde und dem zahlreiche, ähnliche Projekte folgten, wurden Videozeugnisse zu einem sehr populären Medium der Erinnerungskultur. Mittlerweile wird mit virtuellen Zeitzeug*innen, wie im Projekt Dimensions in Testimony der USC Shoah Foundation, eine Unterhaltung mit dem virtuellen Pendant einer realen Zeitzeug*in simuliert. Die VR-Anwendungen gehen noch einen Schritt weiter, indem sie die Nutzer*innen selbst in die Rolle von Zeitzeug*innen versetzen. In den VR-Anwendungen werden sie – digital simuliert – entweder für kurze Zeit selbst zu Opfern oder zu unbeteiligten Zeug*innen.
8. Handelt es sich bei VR-Modellen nicht um eine Täuschung der Nutzer*innen, denen authentische und unmittelbare Erlebnisse, ja sogar das Erleben fremder Erinnerung als eigene Erinnerung, vorgegaukelt werden? Ist das nicht eine ahistorische Vorgehensweise, wenn die Präsentation historischer Ereignisse das Medium der Darstellung vergessen lassen möchte und damit unterschlägt, dass es sich um Interpretationen handelt und Geschichte immer ein Konstrukt ist mit einem bestimmten ideologischen Bezugsrahmen?
Vielleicht ist Täuschung ein zu starkes Wort – aber ja, noch fehlt es etwas an Selbstreflexion in den VR-Anwendungen. Wieder muss ich aber betonen, dass es sich erstens um die allererste Generation von VR-Anwendungen handelt und zweitens die meisten davon noch nicht fertiggestellt wurden. Mehr Reflexion z. B. durch den Einsatz von historischen Quellen, Offenlegung des Produktionsprozesses, ein Brechen des Fotorealismus etc. werden mit großer Wahrscheinlichkeit Teil einiger zukünftiger VR-Anwendungen sein. Gleichzeitig ist die Herangehensweise der bisher realisierten VR-Anwendungen aber nicht viel anders als die der meisten Spielfilme. Auch hier findet ja selten eine Reflexion über die Konstruktion der historischen Darstellung statt. Viele Spielfilme haben ikonische Bilder des Holocaust geliefert, die ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind – obwohl es sich um gestellte Szenen handelt.
Darüber hinaus darf man die Nutzer*innen, denke ich, nicht unterschätzen. Präsenz in der virtuellen Realität heißt nicht, dass die Nutzer*in sich nicht dessen bewusst ist, dass sie sich in der virtuellen Realität befindet. Es heißt auch nicht, dass ihr Vermögen zum kritischen Denken ausgeschaltet wird. Präsenz ist eine sinnliche und keine kognitive Täuschung, wie der VR-Pionier Mel Slater betont hat . Das heißt, wenn ich mich in VR auf dem Dach eines hohen Hauses befinde, dann werde ich Schwindel empfinden – obwohl ich weiß, dass ich gar nicht auf einem richtigen Dach stehe. Klar ist aber auch, je mehr Vorwissen Nutzer*innen haben werden, desto kritischer werden sie an die VR-Anwendung herangehen. Deshalb ist es wichtig, die Anwendungen mit anderen Erinnerungsmedien oder didaktischen Materialien zu kombinieren. Bei einigen Projekten ist dies durchaus schon geplant. Noch wissen wir aber generell sehr wenig darüber, wie die VR-Anwendungen auf die Nutzer*innen wirken und wie sie von ihnen genutzt werden. Nutzer*innen-Studien fehlen weitestgehend und müssen dringend gemacht werden.
9. Sie berichten in Ihrem Aufsatz von neuropsychologischen Untersuchungen, die andeuten, dass unser Gehirn auf die virtuelle Realität genauso reagiert wie auf die eigentliche Realität. Wie geht man dann mit Erfahrungen um, die in diesen virtuellen Räumen gemacht werden? Man taucht ja nicht in die Vergangenheit ein, sondern in eine Interpretation dieser. Welche ethischen Fragen schließen sich daran an?
Das ist eine schwierige Frage, denn noch wissen wir ja nicht genau, wie Menschen auf die von mir analysierten VR-Anwendungen reagieren. Man muss auf jeden Fall sehr vorsichtig sein. Es gibt bereits Anhaltspunkte dazu, dass Fernsehbilder oder Fotografien zu einer indirekten Traumatisierung führen können. Dies gilt für VR-Anwendungen natürlich umso mehr. Die Philosophen Michael Madary und Thomas K. Metzinger haben in einem „Code of Ethical Conduct“ darauf hingewiesen, dass VR-Anwendungen z. B. den freien Willen ihrer Nutzer*innen respektieren müssen und sicherstellen sollen, dass diese keinen seelischen Schaden davontragen. Eine indirekte Traumatisierung durch eine VR-Anwendung, die den Holocaust darstellt, darf natürlich auf keinen Fall passieren.
10. Der Kampf um die Deutungshoheit über die Geschichte der Judenverfolgung setzte praktisch zeitgleich mit dem Angriff auf die jüdischen Gemeinden in Europa ein und wurde in den 1950er und 1960er Jahren von einer konservativen Historikerzunft weitergeführt, die die jüdischen Ansätze, ihre Geschichte zu erzählen, diskreditierten. Dazu mehrere Fragen.
Sind sich die VR-Entwickler*innen des Risikos bewusst, dass sie Gefahr laufen, die Bildsprache und die Propaganda der NS ungewollt zu übernehmen, wenn sie mit fiktionalen Mitteln die Geschichte der Judenverfolgung erzählen? Und dass die gängigen Vorstellungen über den Holocaust sich auf eine visuelle Überlieferung stützten, welche weitgehend die Täterperspektive abbildet? Gibt es auf Seiten der VR-Entwickler*innen Maßnahmen, um NS-Deutungen der jüdischen Geschichte aufzuspüren und zu reflektieren? Wurden jüdische Historikerinnen und Historiker hinzugezogen?
Die meisten Projekte haben sich mit jüdischen Organisationen ausgetauscht oder wurden sogar von diesen Organisationen zu ihrer Arbeit inspiriert. So ist beispielweise Witness: Auschwitz eine Koproduktion des italienischen Studios 101% und der israelisch-italienischen Kommunikationsagentur I Say Web. Für die Konzeption haben sich die Entwickler*innen mit der jüdischen Gemeinde in Rom ausgetauscht. Die Programmierer*innen von Journey Through The Camps wurden für die VR-Anwendung von der jüdischen Bildungsorganisation Classrooms Without Borders inspiriert und haben mit dieser zusammengearbeitet. In der Anwendung selbst kommen jüdische Zeitzeug*innen zu Wort. Auschwitz VR lässt auf ihrer Internetseite einige jüdische Zeitzeug*innen die Anwendung evaluieren. Inwieweit diese auch bei der Entwicklung konsultiert wurden, kann ich nicht nachvollziehen, weil es trotz mehrfacher Bemühungen meinerseits nicht zu einem Interview mit den Entwickler*innen gekommen ist. Allerdings ist Auschwitz VR wiederum ein Projekt der Auschwitz Birkenau Foundation, in deren Komitee ja mehrere jüdische Historiker*innen sitzen. Insoweit wurde die jüdische Perspektive durchaus beachtet – respektive, sie stand sogar am Anfang vieler Projekte.
Natürlich besteht immer die Gefahr, die Propaganda der NS – oder wenigstens den Blickwinkel der Täter*innen – zu übernehmen, wenn man den Holocaust fiktional darstellt. Für die hier analysierten Anwendungen musste zwangsläufig auf von Tätern aufgenommene Fotografien zurückgegriffen werden. Allerdings werden diese Fotografien ja nicht eins zu eins reproduziert. Sie wurden herangezogen, um das Lager zu rekonstruieren.
Ein Problem sehe ich in der Darstellung der Opfer in einigen Anwendungen. Witness: Auschwitz und Journey Through the Camps haben sich dazu entschieden, die menschlichen Figuren gesichtslos oder als Schatten darzustellen. Das hat einerseits technische Gründe. Es ist nach wie vor schwierig, menschliche Figuren in VR realistisch dazustellen und diese können schnell unheimlich wirken (s. hierzu auch Masahiro Mori’s Uncanny Valley). Witness: Auschwitz wollte damit aber auch die Anonymisierung der Insassen im Lager repräsentieren. Das ist eigentlich erst einmal eine verständliche Überlegung. Ich glaube aber, dass die Entwickler*innen dabei nicht reflektiert haben, dass sie damit genau diese Anonymisierung auch reproduzieren. Der Fokus auf die Zeitzeug*innen in der Erinnerungskultur der letzten Jahrzehnte lässt sich ja auch aus einem Bestreben erklären, den anonymisierten Opfern einen Namen und ein Gesicht zu geben. Genau diese Bestrebungen werden nicht beachtet. Allerdings gibt es auch VR-Projekte, die wiederum versuchen, bisher wenig bekannte Geschichten öffentlich zu machen. So soll Fragments, eine Studienarbeit zweier israelischer Studenten, ein Prototyp für eine ganze Reihe ähnlicher Anwendungen sein, die die Biographien einzelner Überlebender veranschaulichen. Bisher haben die beiden Studenten allerdings noch nicht die finanziellen Mittel für ihr Projekt einwerben können.
Übrigens gibt es ein sehr interessantes VR-Projekt, welches den Täterblick vieler Fotografien offenlegen will. In der Ausstellung The Eye as Witness, die unter anderem von Historiker*innen der Universität Nottingham kuratiert wurde, werden die Besucher*innen mittels VR in eine Fotografie des Warschauer Ghettos versetzt und sehen sowohl den Fotografen – als auch das, was um den Bildausschnitt herum zum damaligen Zeitpunkt noch zu sehen war. Die VR-Technologie kann also auch einen Beitrag zur Aufklärung über den Kontext der Aufnahme von historischen Fotografien leisten.
Sie weisen darauf hin, dass die von Ihnen untersuchten VR-Modelle die Lager in einem Zustand beschreiben, in dem sie nie waren: funktionsfähig, aber ohne Insassen oder die Spuren ihrer Anwesenheit, also leere Tatorte. Wird damit nicht unbewusst / ungewollt die Täterperspektive aufgenommen, die ihre Mordstätten als saubere, geordnete und reibungslos funktionierende Räume (gegenüber ihren Vorgesetzten) darstellten?
Der Vorwurf, dass eine Täterperspektive aufgenommen wird, geht – denke ich – zu weit. Denselben Vorwurf könnte man dann auch den Gedenkstätten machen. Diese zeigen ja auch – teilweise mit rekonstruierten Barracken – das Lager leer und sehr aufgeräumt.
Der Umstand lässt sich eher damit erklären, dass architektonische Modelle nun mal im ersten Schritt sehr aufgeräumt sind. Erst in einem zweiten Schritt werden Details hinzugefügt. Das passiert z. B. zurzeit bei Auschwitz: VR, wo sogar die Bepflanzung dargestellt werden soll. Viele Modelle sind aber – wohl auch aus Kostengründen – bei diesem ersten Schritt stehen geblieben. Menschliche Figuren werden in den meisten Modellen wegen der eben beschriebenen technischen Probleme und aus ethischen Überlegungen nicht dargestellt. Man präsentiert den Nutzer*innen ein architektonisches Modell des Lagers.
Besteht nicht die Gefahr, einem falschen Eindruck der historischen Ereignisse zu erliegen? Sie verweisen auf die Entscheidung der VR-Entwickler*innen, bei der Darstellung des Lageralltages keine explizite Gewalt zu zeigen, obwohl Gewalt in den Lagern alltäglich war.
Ja, das ist eine Herausforderung. Ich teile die Bedenken der Entwickler*innen, Gewalt explizit darzustellen. Schon alleine wegen der oben angesprochenen Gefahr einer indirekten Traumatisierung wäre das sehr gefährlich. Andererseits wird damit eben auch eine relativ harmlose Version einer Biographie eines fiktiven Opfers dargestellt. Das ist aber eine Herausforderung, die nicht ganz neu ist für VR-Anwendungen. Auch der Fokus auf die Überlebenden in der zeitgenössischen Erinnerungskultur kann ja schnell vergessen machen, dass das Überleben nicht die Regel, sondern die Ausnahme war. Hier werden zwar in den Zeugnissen Gewalterfahrungen oft minutiös nacherzählt – aber zumindest die Erzähler*in entkam ihnen ja – wenn auch häufig mit massiven körperlichen und seelischen Verletzungen – immer.
Ich denke eher, dass VR-Anwendungen gar nicht erst versuchen sollten, die Erfahrungen eines Opfers aus der Perspektive des Opfers darzustellen. Hier wird versucht, andere Medien – die Autobiographie oder den Spielfilm – in dieses neue Medium der virtuellen Realität zu transponieren. Dabei wird vergessen, dass VR ganz eigene Eigenschaften hat, die man nutzen sollte. Das oben angesprochene Beispiel von „The Eye as Witness“ zeigt – glaube ich – ganz gut, wie VR genutzt werden kann, um Gewalt sowohl darzustellen als auch den Täterblick zu entlarven.
Gibt es aktuell Forschungsprojekte im Bereich der digitalen Konstruktion, an denen Sie beteiligt sind und über die Sie berichten mögen?
Ich versuche gerade mit Kolleg*innen aus unterschiedlichen Disziplinen eine Forschergruppe zu Darstellungen der Vergangenheit in VR aufzubauen. Noch sind wir aber ganz am Anfang, weshalb ich noch nicht allzu viel verraten kann. Da wird aber in Zukunft noch einiges kommen.
Haben sich die Entwickler dieser VR-Modelle Gedanken darüber gemacht, mit welchen (antisemitischen) Vorstellungen oder welchem Vorwissen die Nutzerinnen und Nutzer sich diese Modelle anschauen?
Tatsächlich war das Ziel der Entwickler*innen, die Nutzer*innen aufzuklären. Dass rechtsnationalistisches und rechtsradikales Gedankengut wieder auf dem Vormarsch ist, wurde dabei durchaus reflektiert – und war einer der Gründe für viele, überhaupt erst mit der Entwicklung der Anwendungen anzufangen. Noch weiß man aber sehr wenig darüber, wie die VR-Anwendungen auf die Besucher*innen wirken und ob es sie langfristig zu ethischem Handeln anregen wird. Rezeptionsstudien fehlen bisher noch größtenteils – zum einen wegen der COVID-19-Pandemie, zum anderen, weil die meisten Anwendungen ja noch in der Entwicklung sind.
Geben die Projekte auch der Trauer Raum über die verlorengegangene Welt der jüdischen Gemeinden in Europa? Jasmina Reza schreibt in ihrem Roman „Serge“ von diesem Verlust: „Menschen wie ihnen werden wir nie wieder begegnen. Ohne sie wird es diesen Ort nicht mehr geben. Wozu die Stützstreben, der Rasenmäher, die Erhaltung der Backsteine, Ziegel und Balken, wenn sie nicht mehr am Leben sind? Sie nehmen ein ganzes Jahrhundert und einen Kontinent mit sich.“
Bei den Projekten, die ich analysiert habe, ging es ja dezidiert um Darstellungen von Lagern. Es gibt aber schon länger Bemühungen, digitale Technologien dazu zu nutzen, z. B. verschwundene Synagogen darzustellen. Gerade läuft in Polen ein Projekt, bei welchem Fotografien aus dem Ringelblum-Archiv auf einer digitalen Karte dem Ort ihrer Aufnahme zugeordnet werden. Ähnliche VR-Projekte gibt es meines Wissens noch nicht. Das ist aber sicher nur eine Frage der Zeit.
Wenn man sich erinnern will, warum stellt man dann nicht die Dokumente der Opfer, die sie im Bewusstsein der historischen Situation ausdrücklich für die Nachwelt geschrieben haben, in den Vordergrund, sozusagen als Text-Denkmäler, die man einfach kennen muss?
Ich finde eine Medienvielfalt durchaus sinnvoll. Nicht jeder wird sich die Biographie einer Holocaust-Überlebenden durchlesen, genauso wie nicht jeder sich einen Holocaustfilm ansehen wird, eine Gedenkstätte besuchen wird, ein TikTok Video ansehen oder eine VR-Anwendung nutzen wird. Für die Holocausterinnerung und -pädagogik, wie übrigens für jede Vermittlungspraxis gilt, dass die Angebote desto diverser sein müssen, je mehr Menschen angesprochen werden sollen.
Dr. Steffi de Jong ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität zu Köln und ab Frühjahr 2023 Associate Professor für Geschichtsdidaktik und Public History an der Norwegian University of Science and Technology, Trondheim. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Museum Studies, den Memory Studies, den Sound Studies und der Geschichte des Re-enactments. Der vorliegende Beitrag ist ein Resultat eines Projektes zu Darstellungen des Holocaust in VR, welches vom Grimme-Forschungskolleg finanziert wurde. Zur Zeit arbeitet sie an einem von der Gerda Henkel Stiftung finanzierten Projekt zur Geschichte des Re-enactments. Sie war Mitarbeiterin des internationalen Forschungsprojekts Exhibiting Europe, hat an der Humboldt Universität Berlin und an der Maastricht University gearbeitet und promovierte 2012 an der Norwegian University of Science and Technology in Trondheim. Ihr Buch “The Witness as Object. Video Testimony in Memorial Museums” erschien 2018 bei Berghahn Books.