2018 erhielt Dr. Mai Thi Nguyen-Kim den Grimme Online Award für ihren YouTube-Kanal „maiLab“. Damals belief sich ihre Abonnentenanzahl auf rund 67.000. Drei Jahre später wurde die Wissenschaftlerin mit dem Grimme-Preis für die „Besondere Journalistische Leistung“ ausgezeichnet. Ihr Kanal hat zu diesem Zeitpunkt 1,3 Mio. Abonnent:innen. Mai Thi Nguyen-Kim hat als eine der ersten deutschen Wissenschaftler:innen die sozialen Medien genutzt, um Wissenschaftskommunikation zu betreiben und wissenschaftliche Themen einer breiten Masse verständlich aufbereitet und komprimiert zugänglich zu machen.
Wissen im Netz: Wer erkennt, was stimmt?
Wissenschaftler:innen auf sozialen Plattformen fördern Aufklärung und Transparenz im Netz – insbesondere mit Blick auf die Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass es genau dieser Stimmen bedarf. Dass online mittlerweile jede:r nicht mehr nur rezipierend, sondern auch produzierend agieren kann, ist ein wesentlicher Aspekt der digitalen Welt. Umso schwieriger wird es aber, zu selektieren und zu entscheiden, welche Informationen der objektiven Wahrheit entsprechen. Eine Anfang des Jahres durchgeführte Analyse von NDR, WDR und SZ hat gezeigt, dass Mythen, Falschinformationen und Halbwahrheiten rund um das Coronavirus auf Plattformen wie YouTube und Facebook Millionen von Menschen erreichen – journalistische Faktenchecks, die den Wahrheitsgehalt ebendieser Informationen auf die Probe stellen, werden allerdings rund 20 mal weniger geteilt und erreichen dementsprechend weniger Publikum [1]. Insbesondere Jugendliche sollen laut einer Studie zu Desinformation in der Coronakrise im Auftrag der Vodafone Stiftung Deutschland von Fehlinformationen im Netz betroffen sein: 64 Prozent der befragten 14- bis 24-jährigen fällt es demnach schwerer als bei anderen Themen, unglaubwürdige von glaubwürdigen Informationen zu unterscheiden [2]. Die seit 1998 jährlich durchgeführten JIM-Studie (Jugend, Internet, Medien) hat 2020 eine Sonderstudie zur Lernsituation Jugendlicher während der Corona-Pandemie herausgegeben [3]. Hier gaben 83 Prozent der befragten Jugendlichen an, YouTube als mediales Lernangebot zu nutzen. Auch die JIM-Studie 2021 zeigt, dass das allgemeine Informieren über das Weltgeschehen zu einem der primären Nutzungsmotive einzelner Social-Media-Angebote gehört (65 Prozent, bezogen auf die Plattformen YouTube, Instagram, TikTok und Snapchat) [4]. Die 12- bis 19-jährigen gaben ebenfalls an, dass ihnen im letzten Monat Verschwörungstheorien (51 Prozent) und Fake News (42 Prozent) begegnet sind.
Der Pandemie ist also eine Infodemie entsprungen und besonders digitale Plattformen bieten einen Nährboten, fehlerhafte Informationen zu verbreiten. Hier kommen die Wissenschaftler:innen ins Spiel: Aufklärung, Transparenz und das Entkräften von Mythen und Falschaussagen sind wesentliche Ziele der Expert:innen. Auch sie können soziale Medien nutzen, um schnell an Reichweite zu gewinnen und online Wissenschaftskommunikation zu betreiben.
TikTok als Plattform für Wissen?
Jedes Jahr erhebt die JIM-Studie Daten zum Medienumgang der Zwölf- bis 19-Jährigen in Deutschland. Zielsetzung ist die kontinuierliche Abbildung von allgemeinen Entwicklungen und Trends. Jährlich wird in der Erhebung zudem spezifischen Fragestellungen nachgegangen, die sich aus aktuellen Medienentwicklungen ergeben.
Eine Plattform ist dabei in den letzten Jahren besonders interessant geworden: 2020 hat sich die videobasierte App TikTok als erfolgreiches Netzwerk etabliert, war in diesem Jahr die am häufigsten gedownloadete App und ist heute bereits auf Platz sieben der meistgenutzten Social-Media-Plattformen weltweit, obwohl TikTok und das Chinesische Pendant Douyin erst 2016 am Markt vorgestellt wurden [5]. Laut der JIM-Studie verzeichnet TikTok 2020 hinsichtlich der Frage nach den liebsten Online-Angeboten der Jugendlichen die größte Steigerung (neun Prozentpunkte) zum Vorjahr und es wurde von jeder/-m zehnten Jugendlichen in der freien Nutzung aufgeführt [6]. Außerdem hat die Plattform im selben Jahr einen Anstieg von 19 Prozentpunkten in der regelmäßigen Nutzung und kann damit das größte Plus zum Vorjahr für sich verbuchen. Auch die ARD/ZDF-Onlinestudie 2020 [7] kommt zu ähnlichen Ergebnissen: Das Netzwerk erfreut sich bei den 14- bis 29-Jährigen zunehmender Beliebtheit, die Reichweite der App steigt von drei Prozent im Jahr 2019 auf sieben Prozent im Folgejahr bei der täglichen Nutzung unter 30-Jähriger. 2021 verdichtet sich der Aufwärtstrend: 22 % der Jugendlichen wählten in der JIM-Studie 2021 TikTok als wichtigste App auf dem Smartphone und während die Nutzung von Instagram und Snapchat im Vergleich zum Folgejahr abgenommen hat, verzeichnet TikTok auch hier ein Plus: 2020 gaben 33 % der Jugendlichen an, die Plattform täglich zu gebrauchen, im Jahr 2021 waren es bereits 46 % der Teilnehmenden. Auch die Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2021 bestätigen die weiterhin steigende Beliebtheit des sozialen Netzwerks: Bei den unter 30-Jährigen kann TikTok eine mehr als doppelt so hohe tägliche Nutzung im Vergleich zum Jahr 2020 für sich verbuchen, bei derselben Altersgruppe erreicht die App Platz drei der täglichen Nutzung nach Instagram und Snapchat. TikTok hat also in den letzten Jahren enorm an Relevanz gewonnen und ist damit auch zu einem wichtigen möglichen Ausspielort fundierter wissenschaftlicher Themen geworden, die insbesondere ein junges Publikum erreichen sollen.
Bei einem Auftritt in der deutschen Late-Night-Show „Late Night Berlin“ mit Klaas Heufer-Umlauf am 26.10.2021 sagt die oben bereits genannte Wissenschaftlerin Mai Thi Nguyen-Kim: „Es ist nicht nur wichtig, die Forschung zu machen, sondern auch zu erklären.“[8] Während Mai Thi weiterhin primär YouTube und Instagram bespielt, haben sich andere bereits des neuen Mediums TikTok angenommen.
Und das offenbar erfolgreich: Der Hashtag „Wissenschaft“ generierte bereits 564,7 Mio. Aufrufe [9]. Im Sommer 2020 launchte TikTok außerdem das Projekt „#LernenMitTikTok“ [10]. Die Plattform investierte europaweit 13 Millionen Euro, davon rund 4,5 Millionen in Deutschland, um Lerninhalte auf dem digitalen Netzwerk zu fördern. Unter dem Hashtag findet man diverse Kurzvideos aus den Bereichen Geschichte, Medizin, Biologie, Linguistik, Mathematik u.v.m. Im internationalen Raum kooperierte TikTok im Oktober 2020 unter dem Hashtag #TeamHalo mit Forscher:innen, die an Projekten zur Covid-19-Impfstoff-Entwicklung mitarbeiteten [11].
Sucht man auf TikTok nach historischen Inhalten, kommt man an Leonie Schöler nicht vorbei: Die Journalistin und Historikerin versorgt ihre rund 161 Tausend Follower:innen auf dem Kanal @heeyleonie täglich mit gesellschaftsrelevanten, teils vergessenen oder als weniger wichtig angesehenen historischen Themen und Rückblicken. 2022 war der Kanal für den Grimme Online Award nominiert. Zu der Idee, wissenschaftliche Inhalte auf TikTok zu verbreiten, sagt sie selbst:
„[…] ich habe auch gemerkt, dass der Algorithmus mir immer mehr Bildungsinhalte in die Timeline gespielt hat. Vor allem aus dem englischsprachigen Raum, auch Geschichte oder Politik, soziale Diskussionen und gesellschaftspolitische Inhalte. Das hat mich fasziniert, weil ich das Gefühl gehabt habe, dass ich da in ganz kurzer Zeit neue Perspektiven und Ideen und auch interessante Fakten gelernt habe.“ [12]
Heute bereitet sie selbst kurz, kompakt und komprimiert historische Themen in unter drei Minuten auf und begeistert damit insbesondere ihr junges Publikum: „Ich lerne hier mehr als in Geschichte“ lautet ein Kommentar unter ihrem Video zur Kongokonferenz. Eine ganz konkrete Motivation, Wissenschaftskommunikation auf sozialen Plattformen zu betreiben, nennt die promovierte Biologin Amelie Reigl:
„Als ich mich selbst gefragt habe, welche Wissenschaftler*innen ich kenne, kamen mir natürlich Albert Einstein oder Marie Curie in den Sinn, aber eben keine modernen Wissenschaftler*innen, die auf Instagram zu finden wären. Mir haben Vorbilder von Wissenschaftler*innen in den Sozialen Medien gefehlt. Damit stand ich vor der Entscheidung: Ich kann mich darüber beschweren, wodurch es aber nicht besser wird. Oder ich versuche, selbst als Wissenschaftlerin sichtbar zu werden.“ [13]
Auf ihrem TikTok– und Instagramkanal @diewissenschaftlerin bereitet die 27-jährige ihre Inhalte plattformgerecht auf, berichtet über ihre Forschung und den Alltag als Wissenschaftlerin. Es geht also um Visibilität und Transparenz und darum, zu informieren und aufzuklären.
Neben Leonie Schöler und Amelie Reigl existieren noch viele weitere Wissenschaftler:innen auf TikTok. Im Folgenden sollen nur drei sehr reichweitenstarke Accounts beispielhaft genannt werden:
- @herranwalt (Rechtswissenschaft, 5,8 Mio. Follower:innen)
- @doc.felix (Medizin, 671,3 Tausend Follower:innen)
- @bigbangbash (Biologie, 1,7 Mio. Follower:innen)
Wissenschaftsjournalismus & Social Media
Doch nicht nur neue Gesichter und Einzelpersonen machen sich TikTok zur Wissenschaftskommunikation zunutze: Auch etablierte Formate aus traditionellen Medien verbreiten ihre Inhalte auf den digitalen Plattformen. Während immer mehr – insbesondere junge – Zuschauer:innen zu sogenannten Cord Cuttern werden, also kaum oder gar kein klassisches Kabelfernsehen mehr schauen, müssen öffentlich-rechtliche wie private Anbieter ihr lineares Programm immer mehr in den digitalen Raum verschieben oder hier zusätzlich anbieten, um das jüngere Publikum weiterhin zu erreichen [14]. Seit 1993 existiert die öffentlich-rechtliche Medienmarke des Westdeutschen Rundfunks für wissenschaftsjournalistische Formate Quarks. Begonnen ursprünglich als Wissenschafts-Fernsehmagazin im WDR, folgten eine werktägliche Radiosendung bei WDR 5, mehrere Podcasts (Quarks Daily, Quarks Story, Science Cops) sowie ein Online-News- und Wissensportal (Quarks.de). Mittlerweile gibt es Quarks auch auf TikTok (@quarks mit rund 160 Tausend Follower:innen). Auch der Kanal @solidscience von SWR2 Wissen versorgt seine 76 Tausend Follower:innen täglich mit neuen Video-Postings zu wissenschaftlichen Themen.
Wissenschaft und TikTok schließen sich also nicht aus. Ganz im Gegenteil: Die videobasierte Plattform eignet sich aufgrund ihrer gegebenen Ressourcen ideal dafür, einem breiten Publikum Wissenschaft und Forschung transparent, unterhaltsam und leicht verständlich zu vermitteln. Außerdem tragen die Visibilität und Verbreitung guter und fundierter Inhalte zur Entkräftigung falscher Informationen und Halbwahrheiten auf sozialen Plattformen bei. Und das ist insbesondere für junge Menschen, die digitale Netzwerke als primäre Informationsquelle nutzen, wichtig.
[1] Christian Basl Svea Eckert und Peter Hornung: Die gefährliche Macht der Corona-Mythen, 04.01.2022, Tagesschau, https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/fake-news-corona-101.html.
[2] Sebastian Christ: Jugendliche anfällig für Falschnachrichten, 09.12.2020, in: Der Tagesspiegel, https://www.tagesspiegel.de/wissen/fake-news-in-der-coronakrise-jugendliche-anfaellig-fuer-falschnachrichten/26701038.html.
[3] JIM-plus 2020: Corona-Zusatzuntersuchung, https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/JIMplus_2020/JIMplus_2020_Corona.pdf
[4] JIM-Studie 2021, https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2021/JIM_Charts_2021.pdf
[5] TikTok-Zielgruppe: Marketing und Nutzer-Statistiken 2021, https://www.mediabynature.de/blog/tiktok-zielgruppe/
[6] JIM-Studie 2020, https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2020/JIM-2020_Grafiken.pdf
[7] ARD/ZDF-Onlinestudie 2020, https://www.ard-zdf-onlinestudie.de/
[8] https://www.tiktok.com/@latenightberlin/video/7024034913326337285?is_from_webapp=v1&item_id=7024034913326337285
[9] Stand: 05.09.2022
[10] TikTok launcht #LernenMitTikTok und vereint Entertainment und Lernen, TikTok Newsroom, https://newsroom.tiktok.com/de-de/tiktok-launcht-lernenmittiktok-und-vereint-entertainment-und-lernen
[11] #TeamHalo strahlt auf TikTok: Forscher*innen zeigen ihren Alltag in Labor und Klinik, TikTok Newsroom, https://newsroom.tiktok.com/de-de/team-halo-strahlt-auf-tiktok
[12] Melodie Personnaz und Sarah Klein: Wie passen TikTok und Geschichte zusammen?, 05.06.2022, https://blog.grimme-online-award.de/2022/06/wie-passen-tiktok-und-geschichte-zusammen/
[13] Virginia Albert: „Mir haben Vorbilder von Wissenschaftler*innen in den Sozialen Medien gefehlt“, 08.07.2021, https://www.wissenschaftskommunikation.de/mir-haben-vorbilder-von-wissenschaftlerinnen-in-den-sozialen-medien-gefehlt-49397/
[14] Cord-Cutter in Deutschland – Wer verzichtet auf das klassische Kabelfernsehen? https://www.die-medienanstalten.de/atrium/cord-cutter-in-deutschland-wer-verzichtet-auf-das-klassische-kabelfernsehen/