Vorstellung Ihrer Person sowie Ihrer Arbeit
Ich bin freie Kuratorin und Kulturproduzentin, lebe in Berlin und konzipiere und kuratiere interdisziplinäre Kunst- und Kulturprojekte, meist im internationalen Kontext. Mich interessiert es, mit tradierten Sicht- und Denkweisen zu brechen, Wissenslücken zu füllen, aber auch Wissen zu dekolonisieren. Das Projekt RomArchive – Digitales Archiv der Sinti und Roma tut genau das. Franziska Sauerbrey und ich initiierten das Projekt bereits im Jahr 2014 und koordinierten und leiteten die Umsetzung des digitalen Archivs bis zum Launch 2019.
Entstehungsgeschichte des RomArchive
Um die Genese des Projekts zu beschreiben, muss ich ein wenig ausholen. 2012 unterstützten Franziska Sauerbrey und ich das kulturelle Rahmenprogramm zur Eröffnung des Denkmals für im Nationalsozialismus ermordete Sinti und Roma in Berlin. Wir sind sowohl mit unseren eigenen Wissenslücken konfrontiert worden (so fand man beispielsweise in unseren Schulbüchern nichts zum Holocaust an den Sinti und Roma) als auch mit vielfältigen kulturellen Schätzen der Sinti und Roma. Die Dringlichkeit, hier tätig zu werden, war evident. Wir kontaktierten also die Kulturstiftung des Bundes, zunächst mit dem sehr offen formulierten Anliegen: Möchtet ihr Euch als größte Kulturstiftung Europas nicht einmal mit der mit 12 Millionen Menschen größten Minderheit Europas befassen? Das Interesse war groß und Franziska Sauerbrey und ich wurden mit einer internationalen Recherche betraut, die klären sollte: Was braucht die Community? Was für ein Projekt würde Sinn machen? Wir sprachen im Rahmen unserer Recherche mit Künstler*innen, Politiker*innen, Aktivist*innen in allen europäischen Ländern. Eine Antwort, die wir immer wieder hörten, war: Wir brauchen mehr Sichtbarkeit. Wir brauchen ein Museum, das unsere Kulturen präsentiert. Nun ist der Bau von Roma-Museen in allen europäischen Metropolen natürlich nicht die Aufgabe der Kulturstiftung des Bundes. Es entstand die Idee eines digitalen Archivs, das als Format der transnationalen Community der Sinti und Roma gerecht werden kann. Die Kulturstiftung des Bundes förderte das Projekt mit 3,75 Mio. Euro in der Umsetzung bis zum Launch, mit der Stiftung Deutsche Kinemathek wurde ein kompetenter Partner für die technische Umsetzung gefunden und die Bundeszentrale für politische Bildung ermöglichte eine Anschlussfinanzierung für den langfristigen Träger des digitalen Archivs, das Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma.
Warum ist RomArchive ein Pionierprojekt?
Das RomArchive hat folgende zentrale Ziele: Sichtbarkeit schaffen, Stereotype überwinden, Geschichte rekonstruieren und Wissen dekolonisieren. Es richtet sich nicht nur an die Mehrheitsgesellschaften, sondern auch an die Minderheit selbst. Die Kunsthistorikerin Timea Junghaus, die den Archivbereich Bildende Kunst kuratierte, sagte einmal: „Es ist ein grundlegendes Menschenrecht, Zugang zur eigenen Kultur zu haben.“
RomArchive folgt der Guideline „Nothing about us without us” (Nichts über uns ohne uns). Die Inhalte der zehn Archivbereiche (Bildende Kunst, Literatur, Musik, Theater, Flamenco, Tanz, Film und die kontextualisierenden Bereiche Bilderpolitik, Bürgerrechtsbewegung und Voices of the Victims zum Holocaust an den Sinti und Roma) sind von Kurator*innen aus den Communities zusammengestellt worden. Das ist neu.
Auch gab es vorher keinen zentralen Ort, der den kulturellen Reichtum der Sinti und Roma in diesem Umfang sammelt und zugänglich macht. Wir konnten wertvolle Kooperationen mit Archiven schließen wie dem Phonogrammarchiv Wien, das über einmalige Oral-History-Aufnahmen verfügt oder der Hungarian Academy of Science und dem Centro Andaluz de Flamenco, die uns historisches Bild- und Tonmaterial zu Ungarischen Tänzen und dem Flamenco-Gitano zur Verfügung stellten. Über 5000 Datensätze sind in der Datenbank zu finden. Es entsteht ein diverses Bild der Kulturen der Sinti und Roma. Ich benutze bewusst den Plural, denn DIE Roma- oder Sinti-Kultur gibt es nicht.
Als Pionierprojekt hat RomArchive hat zahlreiche Preise gewonnen. Neben dem Grimme Online Award 2020 wurde es 2019 mit dem European Heritage Award ausgezeichnet.
Beteiligte
Ein 14köpfiges Kurator*innen-Team aus ganz Europa, fast ausnahmslos Angehörige der Sinti und Roma, verantwortete die zehn Archivbereiche. Ein internationaler Beirat bestehend aus Vertreter*innen unterschiedlicher Sinti- und Roma-Communities begleitete beratend die Entstehung des Archivs. Insgesamt waren an der Umsetzung des Projekts über 150 Personen in 15 Ländern beteiligt.
Aktuelle Projekte, Initiativen
Nach dem Launch im Jahre 2019 wurde das Archiv an das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, unter der Leitung von Romani Rose, der bereits Mitglied im Beirat des RomArchive war, übergeben, das das Archiv nun weiterführt.
Das Bildungsforum Antiziganismus in Berlin hat Handreichungen für Lehrer*innen und Multiplikator*innen zum Archivbereich „Voices oft he Victims“ erstellt. „Voices of the Victims“, unter der Leitung der Historikerin Dr. Karola Fings, sammelte frühe Selbstzeugnisse von im Nationalsozialismus verfolgten Sinti und Roma aus über 20 europäischen Ländern und ist damit selbst ein Pionierprojekt innerhalb des RomArchive.
2022 habe ich gemeinsam mit Romani Rose und Moritz Pankok den umfangreichen Band „Widerstand durch Kunst – Sinti und Roma und ihr kulturelles Schaffen“ (ISBN: 3962891307, Ch. Links Verlag, 2022) herausgebracht, der eine profunde Einführung in das künstlerische Schaffen und die kulturelle Selbstbehauptung der Sinti und Roma gibt und aus Texten und Materialien des RomArchive hervorgegangen ist.
Das Dokumentations- und Kulturzentrum hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Digitale Archiv nun weiterzuentwickeln. Dies beinhaltet die Erweiterung der Sammlungen und perspektivisch sicher auch die Ergänzung weiterer Archivbereiche. Denn das ist ja das Schöne an einem digitalen Archiv: Es kann und soll unendlich weiterwachsen!
Projektbeteiligte RomArchive:
Kuratoren:
Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma: Dr. Thomas Acton, (UK); Dr. Angéla Kóczé, sociologist (HU); Dr. Anna Mirga-Kruszelnicka (PL); Dr. Jan Selling (SWE) // Film: Katalin Bársony (HU) // Tanz: Isaac Blake (UK) // Literatur: Dr. Beate Eder-Jordan (AUT) // Voices of the Victims: Dr. Karola Fings (D) // Musik: Dr. Petra Gelbart (CZ/USA) // Bildende Kunst: Tímea Junghaus (HU) // Flamenco: Gonzalo Montaño Peña (ES) // Bilderpolitik: André Raatzsch (HU/D) // Theater & Drama: Dragan Ristić (SRB); Miguel Ángel Vargas (ES)
Beirat:
Pedro Aguilera Cortés (ES); Dr. Gerhard Baumgartner (AUT); Dr. Nicoleta Bitu, Chair, (RO); Dr. Klaus-Michael Bogdal, Deputy Chair (Dy); Professor Dr. Ethel Brooks (USA); Ágnes Daróczi (HU); Merfin Demir, Deputy Chair (D); Dr. Jana Horváthová (CZ); Zeljko Jovanovic (HU); Oswald Marschall (D); Moritz Pankok (D); Romani Rose (D); Riccardo M Sahit (SRB/D); Dr Anna Szász (HU), Zoni Weisz (NL)
Leitung Technische Umsetzung: Jürgen Keiper, Stiftung Deutsche Kinemathek (D)
Initiatorinnen: Isabel Raabe and Franziska Sauerbrey (D)
Zu meiner Person:
Isabel Raabe ist Kuratorin und Projektentwicklerin und lebt und arbeitet in Berlin. Sie studierte Zeitgenössischen Tanz und später Kulturmanagement und kuratierte zahlreiche interdisziplinäre internationale Kunst- und Kulturprojekte. Sie interessiert sich für kuratorische und künstlerische Strategien, die westliche Perspektiven und Denktraditionen durchbrechen. Sie initiierte u.a. das RomArchive – Digitales Archiv der Sinti und Roma, das 2019 online ging und den European Heritage Award 2019 und den Grimme Online Award 2020 gewann. 2022 erschien ihr Buch „Widerstand durch Kunst – Das kulturelle Schaffen der Sinti und Roma (gemeinsam mit Moritz Pankok und Romani Rose, Ch. Links Verlag, 2022). Isabel Raabe hatte 2019 die Idee zum Projekt TALKING OBJECTS – Decolonizing Knowledge, das sie gemeinsam mit Mahret Ifeoma Kupka durchführt. Beide sind Teil des Kurator*innenteams aus Kenia, Senegal und Deutschland, das gemeinsam die Think Tank- und Ausstellungsreihe TALKING OBJECTS LAB in Dakar, Nairobi, Berlin und Frankfurt kuratiert. Das daraus entstehende TALKING OBJECTS ARCHIVE, ein digitales Archiv für dekoloniale Wissensproduktion, soll 2024 online gehen. Isabel Raabe ist Assoziiertes Mitglied des ERIAC – European Roma Institute for Arts and Culture und Mitglied des Kuratorischen Teams von BARAZANI.berlin – Forum Kolonialismus und Widerstand. www.isabelraabe.de www.talkingobjectslab.org
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