„Die Bürgerrechtsarbeit des Zentralrates und seiner Mitgliedsverbände hat vieles erreicht, die Anerkennung des Völkermordes, die Durchsetzung von Entschädigungen für die Opfer, die Beendigung von Sondererfassung und Diskriminierungen durch staatliche Behörden. Es gibt jedoch keinen Grund, in der Wachsamkeit gegenüber gewaltbereitem Rassismus und Diskriminierung nachzulassen. Die Bürgerrechtsarbeit ist notwendiger denn je.“
Zentralrat Deutscher Sinti und Roma
Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma
„Roma (Singular: Rom=Mensch) ist die Selbstbezeichnung einer Volksgruppe, die vor über 1000 Jahren aus dem Nordwesten Indiens nach Westen abwanderte. Die Sinti sind eine Teilgruppe der Roma und seit Jahrhunderten im deutschsprachigen mitteleuropäischen Raum beheimatet. Hier herrschte bis weit in das 20. Jahrhundert die Fremdbezeichnung „Zigeuner“ für diese Volksgruppe vor − ein Begriff, der mit vielfältigen und nicht allein negativen Klischees und Vorurteilen verbunden war und ist.“Bundeszentrale für politische Bildung/Sinti und Roma
Sinti und Roma machten sich vor mehr als 1000 Jahren – vermutlich aus Nordwest-Indien – auf den Weg, um neue Lebensräume finden, und kamen im Zuge dessen in Europa an. Die Sinti ließen sich vorwiegend im heutigen Westeuropa nieder, die Roma eher in Ost- und Südosteuropa. Man nimmt an, dass die Suche nach einer neuen Heimat bereits damals auf Unterdrückung und Gewalt zurück zu führen war. In Deutschland wurden die Sinti 1407 in Hildesheim erstmals urkundlich erwähnt. Weitere Städte, auch in den Nachbarländern, folgten. 1423 fanden die Sinti Unterstützung durch König Sigismund, der ihnen mithilfe eines Schutzbriefes die eigene Gerichtsbarkeit zusicherte und so versuchte, sie vor Übergriffen zu schützen. Diese Situation änderte sich jedoch bereits gegen Ende des Jahrhunderts, als 1496 und 1498 die Lindauer und Freiburger Reichstage den Schutzbrief aufhoben. Ab da galt die Gruppe der Sinti als vogelfrei und wurde durch die Bezeichnung „Zigeuner“ offen diskriminiert. Weitere Reichstage folgten und mit ihnen weitere Verfolgungswellen. Im 18. Jahrhundert wandelte sich die Situation zu einer Zwangseingliederung, wiederum gefolgt von Verfolgung und Vertreibung.
Und auch in der jüngeren Geschichte nahm es keine gute Entwicklung, im Gegenteil. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten bedeutete für die Sinti und Roma erneut Verfolgung und Gewalt. Sie verloren die deutsche Staatsbürgerschaft, viele wurden ab Mitte der 1930er Jahre in Lagern interniert und mussten Zwangsarbeit leisten. Kinder durften keine Schule mehr besuchen, es gab Berufsverbote, spezielle Meldepflichten und zahlreiche Einschränkungen im täglichen Leben. Ab 1940 wurden die ersten Familien in Konzentrationslager deportiert. Etwa eine halbe Million Sinti und Roma wurden dort ermordet.
Wie aktuell das Thema ist und wie wichtig es ist, mit den Betroffenen zu sprechen und nicht über sie, zeigt auch eine Gesprächsrunde (ca. ab Minute 18.10) zum Thema „Rechtpopulismus und die Verantwortung der Medien“, die im letzten Jahr als Produktionsveranstaltung vom Grimme-Institut durchgeführt wurde. Darin verdeutlicht der Journalist Alexander Völkel die Bedeutung von gutem lokalen Journalismus, der Sinti und Roma zu Wort kommen lässt.
Dieser kurze Blick in die Geschichte zeigt, wie viel Gewalt und Elend Sinti und Roma in der Vergangenheit erlebt haben, und macht den Bedarf an Anerkennung der Verfolgung, Gedenken der Opfer sowie Aufklärung in der aktuellen Zeit deutlich. Denn: Diskriminierung und Alltagsrassismus sind für die Gruppe der Sinti und Roma in Europa leider immer noch Alltag. Die Anerkennung der nationalsozialistischen Verbrechen an ihnen sowie die Bereitschaft, aktuellen Belastungen nachzugehen und für eine bessere Lebenssituation zu sorgen, sind wichtige Bestandteile der heutigen Arbeit von Projekten.
Wir haben uns im Rahmen unseres Dossiers „Virtuelles Erinnern“ ein paar beispielhafte Initiativen herausgesucht und möchten diese im Folgenden vorstellen.
Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma
Das Zentrum eröffnete 1997 und arbeitet für eine staatliche und gesellschaftliche Anerkennung der Sinti und Roma. Es beherbergt Berichte und lebensgeschichtliche Erzählungen von Überlebenden der NS-Verfolgung. Die Biografien werden in einer Dauerausstellung gezeigt, mit dem Ziel, dass diese spezifische Erfahrungsgeschichte von NS-Opfern in der deutschen Erinnerungskultur verankert bleibt.
Im März 2022 erinnerte das Dokumentations- und Kulturzentrum an den vierzigsten Jahrestag der Anerkennung des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma Europas durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt.
Die Zielsetzungen des Zentrums sind vielfältig: Es geht um die Stärkung von Sinti und Roma im Umgang mit der eigenen Sprache, Kultur und Identität. Es unterstützt das Bildungsbestreben junger Sinti und Roma, um die gleichberechtigte Teilhabe von Sinti und Roma in der Gesellschaft zu stärken und das Empowerment der Minderheit zu unterstützen. Zudem arbeitet es an der Erforschung und Dokumentation der 600-jährigen (Kultur-)Geschichte der Sinti und Roma und engagiert sich in der politischen Bildungsarbeit gegen Antiziganismus sowie für zeitgenössische Kunst- und Kulturprojekte. Und nicht zuletzt geht es um die Anregung eines gesellschaftlichen Dialogs. Das Angebot des Dokumentations- und Kulturzentrums unterteilt sich entsprechend in die Bereiche Dokumentation, Vermittlung und Teilhabe.
Bildungsforum gegen Antiziganismus
Das Bildungsforum gegen Antiziganismus ist Teil des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma. Die Schwerpunkte der Bildungseinrichtung sind Präventionsarbeit gegen Antiziganismus und Empowerment für Sinti und Roma. Thematisch geht es um historische und gegenwärtige Formen des Antiziganismus, die im Rahmen von Workshops, Studienfahrten oder Fachtagungen bearbeitet, diskutiert und kritisch reflektiert werden.
Zielgruppen sind Multiplikator(inn)en der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit, Verantwortliche in zivilgesellschaftlichen Kontexten (Medien, Soziale Arbeit, usw.), staatliche Akteure wie die Polizei und Interessierte. Die Konzepte sind interaktiv angelegt und orientieren sich an den Bedürfnissen und Fragen der jeweiligen Zielgruppe. Alle Workshops sind sowohl im Bildungsforum als auch in externen Räumlichkeiten möglich. Die Zugänge zum Bildungsforum sind barrierefrei.
Zentralrat Deutscher Sinti und Roma
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma begrüßte im Februar 2022 die von der Bundesregierung beschlossene nationale Strategie „Antiziganismus bekämpfen, Teilhabe sichern!“
Gegründet wurde der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma 1982 in Heidelberg. Er beheimatet als Dachverband 19 Landes- und Mitgliedsverbände und ist die bürgerrechtliche und politische Interessenvertretung der deutschen Sinti und Roma. Zielsetzungen des Zentralrates sind die gleichberechtigte Teilhabe der Sinti und Roma in Politik und Gesellschaft sowie der Schutz und die Förderung als nationale Minderheit. Der Dachverband steht in einem kontinuierlichem Dialog mit Bundes- und Landesregierungen.
Der WDR führte am 02.08.2022 anlässlich des Holocaust-Gedenktages für Sinti und Roma ein Interview mit Romani Rose (Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma).
Für die deutschen Sinti und Roma setzte der Zentralrat im Mai 1995 die gesetzliche Anerkennung als nationale Minderheit durch und für das deutsche Romanes die Anerkennung als Minderheitensprache gemäß der „Charta des Europarates.“ Auf internationaler Ebene vertritt der Zentralrat die Interessen von Sinti und Roma regelmäßig auf Konferenzen der EU, des Europarats und der OSZE und ist Mitglied in zahlreichen nationalen und internationalen Minderheitenorganisationen. Vorsitzender des Zentralrats ist Romani Rose.
Landesverband deutscher Sinti und Roma NRW
Der Landesverband deutscher Sinti und Roma will mit seinem Angebot Auskünfte aus erster Hand über die Sinti und Roma in Nordrhein-Westfalen geben. Er gibt Einblick in die Geschichte der Sinti und Roma und stellt Videomaterial und Literaturhinweise zur Verfügung. Zudem finden Sinti und Roma Unterstützung in der dazugehörigen Beratungsstelle. Der Landesverband ist vernetzt mit dem Zentralrat der Sinti und Roma sowie mit den weiteren Landesverbänden in Deutschland.
RomArchive
RomArchive, das digitale Archiv der Sinti und Roma, macht Künste und Kulturen der Sinti und Roma sichtbar und veranschaulicht ihren Beitrag zur europäischen Kulturgeschichte. Durch von Roma und Sinti selbst erzählten Gegengeschichten schafft RomArchive eine im Internet international zugängliche, verlässliche Wissensquelle, die Stereotypen und Vorurteilen mit Fakten begegnet.
RomArchive/About
Lesen Sie mehr über die Entstehungsgeschichte des RomArchives im Interview mit Isabel Raabe.
Die Idee für das digitale Archiv entstand auf der Basis einer intensiven Recherche und zahlreichen Interviews mit Künstler(inn)en, Kurator(inn)en, Aktivisten(inn)en und Wissenschaftler(inn)en der Minderheit aus Europa, durchgeführt von den Projektinitiatorinnen Franziska Sauerbrey und Isabel Raabe. Diese Gespräche zeigten den Bedarf und die Bedeutung eines digitalen Ortes, der Raum bietet für von Sinti und Roma selbst erzählten Geschichten, die ein Gegengewicht zu den stetigen Stereotypen und Fremdbeschreibungen bieten.
ARTE berichtete über das RomArchive im Januar 2019.
Umgesetzt wurden die Informationen aus erster Hand in den Rubriken Bilderpolitik, Bildende Kunst, Film, Musik, Flamenco, Tanz, Theater, Drama und Literatur. Zudem finden sich Informationen zur Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma und in der Rubrik „Voices of the Victims“ erzählen Zeitzeugen aus der Zeit der Verfolgung im Nationalsozialismus. Finanziell ermöglicht wurde das RomArchive durch die Kulturstiftung des Bundes. Die Dreisprachigkeit des Online-Angebotes ermöglicht zudem einen internationalen Zugang.
2020 gewann das RomArchive den Grimme Online Award: „Zwischen Magazin und elaboriertem Archiv macht das „RomArchive“ die Künste und Kulturen der Sinti und Roma sichtbar. In zehn thematisch unterteilten Bereichen finden sich etwa 5000 Objekte und Artikel, so miteinander verknüpft, dass sich die Nutzer*innen darin verlieren können. Als internationales und mehrsprachiges, von Sinti und Roma erstelltes Projekt bestärkt es die Minderheit und ist Wissensquelle für die Mehrheitsgesellschaft. So begegnet dieses einzigartige Angebot Stereotypen und Vorurteilen mit Fakten.“
Grimme Online Award
Fernsehdokumentationen zum Thema:
Der lange Weg der Sinti und Roma
ARD
März 2022
Sinti und Roma. Eine deutsche Geschichte
ZDF
Juli 2021 (verfügbar bis Juli 2024)
„Wir haben doch nichts getan …“ – Der Völkermord an den Sinti und Roma · Spuren der NS-Zeit
Planet Schule SWR
März 2021
Wer sind Sinti und Roma?
FUNK
März 2022