Bitte stellen Sie sich und die Initiative „Erinnern mit Games“ kurz vor.
Die Initiative „Erinnern mit Games“ der Stiftung Digitale Spielekultur möchte einen Beitrag dazu leisten, eine historisch fundierte und sensible Erinnerungskultur mit Computerspielen zu etablieren, insbesondere in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus. Dazu baut sie unter anderem Netzwerke zwischen Spielentwickler*innen, Historiker*innen und Gedenkarbeiter*innen auf, diskutiert Chancen und Grenzen von Games beim Erinnern der Vergangenheit sowie erprobt neue Spielkonzepte und Vermittlungsformate. Ich bin 2020 zur Stiftung Digitale Spielekultur hinzugestoßen, zunächst als Projektmanager und mittlerweile als Projektleiter der Initiative „Erinnern mit Games“. Zuvor und daneben war und bin ich als kultur- und medienwissenschaftlicher Publizist tätig und analysiere die verschiedenen Schnittstellen von Games, Gesellschaft und Kultur. Im Jahr 2014 war ich sogar schon einmal an der Vorbereitung eines Forschungsprojekts zur Geschichtsvermittlung im Computerspiel beteiligt. Als Leitmedium des Dachprojekts galt damals jedoch noch der Fernseher und entsprechend wurde das Projekt nicht gefördert. Das zeigt auch, wie weit wir in nur wenigen Jahren gekommen sind. Heute sind Games selbstverständlicher Bestandteil der Kultur- und Medienlandschaft und werden als gesellschaftspolitisch relevant angesehen sowie entsprechend ernst genommen und gefördert.
Können Sie uns etwas zur Entstehungsgeschichte und zu den Beteiligten der Initiative erzählen?
Das erste Projekt der Initiative „Erinnern mit Games“ der Stiftung Digitale Spielekultur war ein von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) geförderter Pitch Jam zum Konzipieren neuer Ideen für eine digitale Erinnerungskultur. Als die Planung im Frühling 2019 begann, herrschten noch viele Vorbehalte gegenüber dem Thema. Insbesondere gab es Bedenken, dass digitale Spiele zu einer Trivialisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit beitragen könnten. Gleichzeitig fanden in der Spielekultur und der Öffentlichkeit bereits einige Diskussionen darüber statt, dass Computerspielen im Kontext der Erinnerungskultur mehr zugetraut werden muss. Auslöser dafür war unter anderem, dass das von Historiker*innen der Karls-Universität in Prag entwickelte Spiel Attentat 1942 (2017), das vorbildlich über NS-Verbrechen aufklärt, bis August 2019 wegen der Darstellung von Hakenkreuzen und anderen verfassungsfeindlichen Kennzeichen nicht in Deutschland veröffentlicht werden konnte. Die Rechtslage zur sogenannten Sozialadäquanz von Games hat sich seitdem glücklicherweise dauerhaft gebessert und im Rahmen von Kunst und Bildung können sie nun auch die NS-Vergangenheit im vollen Umfang darstellen.
Für die Stiftung Digitale Spielekultur war daher allerdings von Beginn an klar, dass das Thema sehr sensibel ist und unbedingt Expert*innen aus der Spielentwicklung, der Geschichtswissenschaft und der Erinnerungskultur hinzugezogen werden müssen, um Kriterien für eine angemessene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Games zu erarbeiten. Zu der Fachjury für den Pitch Jam gehörten unter anderem Vertreter*innen von großen Publishern wie Ubisoft, Gedenkstätten wie Ravensbrück, Museen wie dem NS-Dokumentationszentrum in München, Kulturverbänden wie dem Deutschen Kulturrat sowie von Hochschulen wie der Universität Siegen. Bei der ersten Jurysitzung im Februar 2020 war dann vor allem überraschend für uns, dass es besonders die Gedenkorte waren, die das große Potenzial von Games für ihre Arbeit betont haben. Die kurz danach beginnende Corona-Pandemie sollte ihnen recht geben. Auf dem Pitch Jam unter Pandemie-Bedingungen im Juni 2020 entstanden dann sieben herausragende Spielkonzepte, von denen zwei von der Jury gemäß den definierten Kriterien ausgezeichnet wurden. Für uns wurde deutlich, dass wir diese Arbeit unbedingt in Form der Initiative „Erinnern mit Games“ fortführen müssen.
Wie erinnern Computerspiele an die Vergangenheit und hat sich daran durch Ihre Arbeit etwas verändert?
Zunächst muss betont werden, dass Games seit langer Zeit historische Settings nutzen. Schon in den Spielhallen der 1980er findet man etwa einen Spielautomaten wie Red Baron (1980), der die Luftkämpfe des ersten Weltkriegs als Schauplatz nutzt. Mit The Oregon Trail (1971) wurde in den 1970ern in den USA sogar schon ein Computerspiel für den Geschichtsunterricht entwickelt und eingesetzt. Heute greifen digitale Spiele alle möglichen Epochen und Ereignisse der Vergangenheit auf – von der griechischen Antike über die Französische Revolution bis hin zu zeitgenössischen Konflikten. Die Vermittlung von Informationen steht dabei jedoch eher selten im Vordergrund, sondern in erster Linie der Unterhaltungswert. Daher ist das Bild der Vergangenheit dort oft recht verzerrt, einseitig oder lückenhaft, was gerade im Kontext des Nationalsozialismus natürlich nicht unproblematisch ist. Auch um eine negative Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu vermeiden und nach wie vor geltende Gesetze nicht zu verletzen, werden NS-Ideologie und NS-Verbrechen weitgehend ausgeblendet und meist steht der militärische Wettkampf zwischen vermeintlich politisch neutralen Konfliktparteien im Vordergrund. Die Nazi-Soldaten sind dabei zwar schon irgendwie „böse“, aber eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust, der menschenverachtenden Ideologie der Nationalsozialisten sowie den vielen Formen der Mittäterschaft, auch in der Zivilbevölkerung, bleibt in der Regel aus.
Genau hier setzt die Initiative „Erinnern mit Games“ an, denn diese Lücken lassen sich schließen und neue Zugänge entwickeln, wenn Spielentwickler*innen mit Geschichtswissenschaftler*innen und Gedenkarbeiter*innen in einen produktiven Dialog treten. Es geht darum, Vertrauen zwischen der Spiele- und der Erinnerungskultur aufzubauen, Orientierung zu schaffen und Expertise auszutauschen. Und das zahlt sich aus! Allein im Frühjahr 2022 sind gleich mehrere Computerspiele erschienen, die in Kooperation von Gedenkstätten und Entwicklerstudios entstanden sind. Darunter unter anderem Forced Abroad (2022), ein Spiel über NS-Zwangsmigration und -arbeit, vom NS-Dokumentationszentrum München und Paintbucket Games, sowie Spuren auf Papier (2022), ein Spiel über die Krankenmorde in der Zeit des Nationalsozialismus, von der Gedenkstätte Wehnen und Playing History. Auch die beiden ausgezeichneten Spiele unseres Pitch Jams sind aktuell noch aktiv in der Entwicklung. Allen Projekten ist gemeinsam, dass nun ein sensibler, fundierter und multiperspektivischer Blick auf NS-Unrecht geworfen wird.
Welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie für den Einsatz von Computerspielen im Bereich des virtuellen Gedenkens sowie in der politischen Bildung?
Computerspiele sind eine hervorragende Ergänzung für die historisch-politische Bildung an Lerneinrichtungen und Gedenkorten. Sie sind selbstverständlicher Teil der digitalen Lebenswelt junger Menschen und können wichtige Themen in innovativer und involvierender Form aufgreifen und vermitteln – etwa indem sie historische Orte erfahrbar machen, Entscheidungen und ihre oft schwerwiegenden Konsequenzen illustrieren oder mit ihren Regelsystemen komplexe politische und historische Systeme nachbilden. Konkret: Wir können in ihnen zum Beispiel durch antike Städte flanieren, müssen als Widerstandskämpfer*in die Risiken unserer Aktionen abwägen oder als Staatsoberhaupt auf demokratischem Weg die Verfassung reformieren. Das sind Möglichkeiten der Vermittlung, die so nur Games bieten.
Wichtig ist aber zu betonen, dass Computerspiele andere Formen des Gedenkens nicht ersetzen können und auch gar nicht sollen. Im Gegenteil, sie sind meist darauf angewiesen, dass historische Kontexte über klassische Medien und Gedenkarbeit bereits etabliert wurden. Games können neugierig auf die Vergangenheit machen und vorhandenes Wissen sinnvoll ergänzen, aber sie sind kein Wundermittel, das ganz von allein die historisch-politische Bildung revolutioniert. Stattdessen müssen sie zum Beispiel im Rahmen von Unterrichtseinheiten eingeordnet und auch kritisch hinterfragt werden. Diese Synergien zu ermöglich, daran arbeiten wir als Stiftung Digitale Spielekultur.
Wie soll es in Zukunft weitergehen mit der Initiative „Erinnern mit Games“?
Die Corona-Pandemie war zwar auch für uns eine große Herausforderung, aber da wir mit einem ortsunabhängigen und digitalen Medium arbeiten, war eine Anpassung an die Umstände weitgehend problemlos möglich. Veranstaltungen konnten remote oder hybrid stattfinden, Dialog als Podcast aufbereitet werden und mit unserer Datenbank „Games und Erinnerungskultur“ haben wir ein stetig wachsendes Online-Werkzeug aufgebaut, das erinnerungskulturell relevante Computerspiele für Lehrkräfte kuratiert und einordnet. In Zukunft möchten wir aber dennoch gerne Games nicht nur aus der Ferne vermitteln, sondern auch an die konkreten Gedenkorte bringen, zum Beispiel in Form von Ausstellungen und Workshops. Denn so zukunftsweisend das digitale Gedenken auch ist, ohne die realen Erinnerungsorte geht es nicht.
Haben Sie herzlichen Dank für das Interview!
Kurzvita
Christian Huberts ist Kultur- und Medienwissenschaftler und arbeitet seit 2020 bei der Stiftung Digitale Spielekultur. Unter anderem leitet er dort die Initiative „Erinnern mit Games“. Daneben tritt er als freiberuflicher Publizist in verschiedenen Medien als Experte für Games auf und schreibt für wissenschaftliche Publikationen, Kulturmagazine sowie Zeitungen über die Partizipation an virtuellen Welten und die Kultur von Computerspielen. Zuletzt unterstützte er als Associate Producer das Berliner Studio waza! Games bei der Entwicklung der politischen Bildungs-App Konterbunt.