Wie würde ich mich wohl fühlen, wenn ich täglich Medien aller Art nutzen würde und mich nirgendwo wiederfände? Oder wenn doch einmal: wenn ich sehen würde, dass ich auf ein (ungerechtfertigtes) Klischee oder handfestes Vorurteil reduziert werde? Der WDR hat sich dieses Problems mit einer Studie angenommen, in der es um das Medienverhalten von jungen Menschen mit Migrationshintergrund ging. Angesprochen wurden aber nicht nur ihre Mediennutzung, sondern auch ihre Forderungen und Wünsche. Die genannten Defizite sind für Menschen, die sich bereits seit längerer Zeit mit diesen Punkten befassen, wenig überraschend. Als Handlungsaufforderung an Redaktionen etwa bedeutet dies aber die konkrete Auseinandersetzung mit Fragen wie: Haben wir diesen Teil des Publikums überhaupt im Blick? Wie bringen wir (mehr) Vielfalt in die Programme?
Iva Krtalic, die Integrationsbeauftragte des WDR, hat an der Studie mitgewirkt. Wir freuen uns, über Vielfalt in den Medien, die Förderung von Integration im WDR und einige Aspekte der Studie im Detail mit ihr sprechen zu können.
Die Themen Integration und Rassismus sorgen in diesen Tagen für intensive Debatten – auch im WDR, vor allem nach der Sendung „Die letzte Instanz“, die im Januar eine Welle der Kritik ausgelöst hat. Was hat die Sendung im größten öffentlich-rechtlichen Haus bewirkt?
Sie hat vor allem eine intensive Diskussion bewirkt, eine Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus auf vielen Ebenen und auch mit der eigenen redaktionellen Praxis. Es ist völlig unstrittig, dass die Kritik an der Sendung berechtigt war und dass sie uns in der Öffentlichkeit sehr geschadet hat. Aber sie hat auch bewirkt, dass sich die Redaktionen gerade die Frage stellen: Wo sind unsere blinden Flecken? Wie können wir es in Zukunft besser machen? Was sollen wir in der eigenen Arbeit gerade überdenken? Bei aller Frustration denke ich, dass uns diese Diskussion gut tut. Konkret erarbeite ich derzeit mit Führungskräften ein programmstrategisches Maßnahmenpaket, um die Vielfalt unseres Sendegebiets künftig stärker und besser hörbar und sichtbar zu machen. Geplant sind externe Feedbacks, Dialog mit dem Publikum, ein Mentoringprogramm für junge Medienschaffende, Stärkung der Fortbildungen, Bündelung des Wissens und einiges mehr. Wichtig ist mir aber dabei: Wir stärken hier ein aktives Engagement für interkulturelle Vielfalt, das es im WDR schon sehr lange gibt. Anders könnten wir in unserem Sendegebiet gar nicht arbeiten. Hier stammt fast jedes zweite Grundschulkind aus einer Einwandererfamilie – das ist die gesellschaftliche Normalität. Das spiegelt sich in unserem Programm. Einige Beispiele: COSMO, das junge europäische Kulturradio des WDR, das Format RebellComedy oder die Angebote bei WDRforyou für Neu-Zugewanderte. Aber das alles bedeutet nicht, dass die Aufgabe erledigt sei. Senden wir wirklich für alle? Welches Bild der Gesellschaft zeigen wir? Und ist dieses Bild realistisch? Die Fragen rund um das journalistische Arbeiten in der pluralen Gesellschaft müssen wir uns, müssen sich Medien insgesamt, immer wieder stellen. Das hat auch die misslungene Sendung gezeigt.
Welche Bereiche wurden von der WDR-Studie abgefragt? Wer nahm an der Studie teil?
Der WDR-Medienforscher Erk Simon und ich haben erst eine Gruppe junger Menschen aus NRW mit eigener oder familiär erlebten Einwanderungsgeschichte in den WDR eingeladen. Im Austausch mit Programmkolleg*innen verschiedener Bereiche – von den Landesstudios über den Newsroom, Unterhaltungsprogramm und Hörfunk – ging es darum, welche Medienangebote sie wie nutzen, welche Wünsche und Erwartungen sie insgesamt an die Medien haben, was sie vermissen. Aus dieser Diskussion haben wir die interessantesten Fragen herausgearbeitet, die anschließend in einer größeren Umfrage mit knapp 500 Teilnehmer*innen gestellt wurden, auch hier 20- bis 40-Jährige mit einem sogenannten Migrationshintergrund.
Warum diese Zielgruppe überhaupt gesondert befragen? Sind wir da nicht schon weiter?
Die Gesellschaft ist natürlich weiter, die Vielfalt wird vor allem in der jungen Generation selbstverständlich auf vielen Ebenen gelebt und ist ein zentraler Treiber der gesellschaftlichen Entwicklung. Wenn junge Menschen ein Format in den Medien sehen, in dem es keine Vielfalt gibt, merken sie sofort: Hier stimmt was nicht, so sieht die Gesellschaft heute nicht aus.
In unserem Sendegebiet, NRW, hat mehr als jede*r vierte eine Einwanderungsgeschichte, in der jungen Altersgruppe ist die Prozentzahl noch höher, aber ich denke, dass diese Lebensrealitäten insgesamt in den Medien zu wenig vorkommen. Gerade deswegen war es uns wichtig, die Befragten nicht als eine exotische Gruppe mit speziellen Bedürfnissen zu betrachten. Vielmehr haben wir die Studie aus dem Rahmen einer postmigrantischen Situation konzipiert: Wir wollten die Normalität einer Generation erforschen, deren Gesellschaft durch und durch von kontinuierlicher Einwanderung und Interkultur geprägt ist, eine Gesellschaft, in der binäre Aufteilungen in Einheimische und Zugewanderte nicht mehr praktikabel sind. Es ging uns also nicht darum, Fragen nach der Integration an eine wie auch immer definierte Mehrheitsgesellschaft zu stellen, sondern um die Frage, ob wir in den Medien diese gesellschaftliche Normalität fundiert und realistisch darstellen und ob wir unser gesamtes Publikum erreichen.
Oft spricht man einfach über „Menschen mit Migrationshintergrund“, als handle es sich hierbei um eine homogene Gruppe. Muss man stärker differenzieren? Wenn ja: wie?
Das ist eine wichtige Frage für die Medien, die allerdings oft vergessen scheint. Hinter dem rein statistischen Etikett „Migrationshintergrund“ verbirgt sich eine große Vielfalt an biografischen und kulturellen Erfahrungen, an politischen Meinungen und Perspektiven. In der Altersgruppe, die wir befragt haben, haben wir beispielsweise eine emotionale Bindung und Identifikation mit Deutschland festgestellt, sowie ähnliche Interessen und Einstellungen wie unter Menschen ohne Einwanderungsgeschichte. In anderen Worten: Die kulturelle Prägung, die so oft angenommen, ja fast unterstellt wird, ist nur ein Merkmal neben weiteren wie zum Beispiel Generationszugehörigkeit, Geschlecht oder soziale Lage. Was das für die Medien bedeutet, liegt auf der Hand: Es ist ein differenzierter Blick auf die Einwanderungsgesellschaft notwendig.
Wie wird der mediale Umgang mit Einwanderung bewertet?
Hier zeigt sich auch eine große Vielstimmigkeit: Auf der einen Seite wurden die Qualität und Transparenz gelobt, persönliche Geschichte oder Hintergründe der Migration. Auf der negativen Seite wird in den Medien insgesamt die Problematisierung der Einwanderung bemängelt, eine oft starke Emotionalisierung und der Fokus auf Negativberichterstattung, beispielsweise in der Kriminalitätsberichterstattung. Und, es gab Stimmen, die meinten, die deutschen Medien würden die Lage „verschönern“, um keinen Hass zu schüren. Der „Migrationshintergrund“ an sich war auch hier nicht der Hauptfaktor, der jede politische Meinung auf gleicher Weise beeinflusst.
Zu welchen Schlüssen sind Sie im Hinblick auf die Mediennutzungsgewohnheiten gekommen? Was ist gleich, was ist womöglich anders?
Das meiste ist in der Altersgruppe gleich, wenn es um Themen und Formate geht. Die Befragten nutzen mehrheitlich digitale Angebote und erwarten eine junge, attraktive Ansprache. Sie interessieren sich am stärksten für Nachrichten aus Deutschland, auch regionale Nachrichten sind wichtig. Relevant sind auch Themen wie Unterhaltung und Comedy, Musik, sowie Wissen und Serviceinformationen. Und noch ein Befund: Auch wenn digitale Angebote bevorzugt benutzt werden, vertrauen die jungen Menschen den öffentlich-rechtlichen Medien am stärksten, wenn es um Aktuelles und Nachrichten geht. Das alles spielt uns in die Karten und öffnet viele Möglichkeiten, dieses Publikum besser zu erreichen.
Welche Rolle spielen internationale Medienangebote?
Die Medienangebote aus dem eigenen oder dem Herkunftsland der Eltern werden selten als primäre Informationsquelle genutzt. Vielmehr sind sie eine Ergänzung der deutschen Angebote, etwa bei besonderen Ereignislagen oder um das Informationsspektrum zu erweitern. Auch dienen sie als Korrektur, wenn in der Berichterstattung bestimmte Themen vermisst werden. In früheren Studien hat man diese transnationale Mediennutzung eher als Zeichen mangelnder (medialer) Integration gedeutet – das lag sicherlich auch an den technischen Möglichkeiten der Zeit. Vor allem dank der technologischen Fortschritte und der sinkenden Telekommunikationskosten der letzten Jahrzehnte sind aber die Beziehungen zu den Herkunftsländern nicht gesunken, sondern gewachsen, so dass wir diese Praktiken heute eher als Zeichen einer gut funktionierenden postmigrantischen Lage sehen können, in der Mehrfachzugehörigkeiten unproblematisch und auch medial sehr einfach sind.
Wie zufrieden sind die Teilnehmenden, die befragt wurden, mit dem Maß an Vielfalt in den Medieninhalten?
Was sehr deutlich wurde: Die Mehrheit der Befragten, insgesamt 62 Prozent, findet es „wichtig“ oder „sehr wichtig“, Menschen mit Einwanderungsgeschichten in programmprägenden Rollen zu sehen. Sie haben explizit gesagt, wie stolz und glücklich sie sind, wenn sie Menschen wie sich als Moderatorin einer Sendung oder Host einer Comedy-Show sehen. Auch weil sie sich, wie ich eingangs gesagt habe, nicht über das Merkmal „Migrationshintergrund“ definieren, wollen sie sich und die eigene Lebenswelt als Teil des normalen Bildes der Gesellschaft in den Medien sehen und nicht immer als Teil eines „Migrationsproblems“ oder einer „Integrationsaufgabe“.
Jetzt, da die Ergebnisse vorliegen: Welche Fragen und Handlungsoptionen ergeben sich konkret?
Ein wichtiger Baustein ist es, Menschen mit vielfältigen Biografien in die Medien zu bringen. Im WDR führen wir beispielsweise seit 15 Jahren die Talentwerkstatt WDR grenzenlos für junge Medienschaffende mit internationalen Biografien durch. Der Kerngedanke hier ist es nicht, eine benachteiligte Gruppe unterstützend an den Sender heran zu führen, sondern eben das Gegenteil: Es geht darum, für die Medien genau diese Vielfalt der Perspektiven zu erschließen, neue Geschichten aus verschiedenen Lebenswelten journalistisch erzählen zu lassen. Darum sollte es meines Erachtens bei jeder Vielfaltsstrategie in den Medien gehen: Sie soll Vielfalt nicht als Nischenthema oder ein „nice-to-have“ verorten, sondern das Ziel verfolgen, sich für neue Perspektiven zu öffnen, damit das Programm insgesamt besser wird und das gesamte Publikum anspricht.
Welche Weichen können noch gestellt werden?
Eine zentrale Frage ist die Zusammensetzung der Redaktionen: Wie können wir Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven in die Redaktionen bringen? Zum Beispiel bei der Auswahl der Volontär*innen: Wie gewichten wir welche Qualifikation? Wen sprechen unsere Ausschreibungen an? Wie ist die Jury zusammengesetzt? Im WDR zeigt diese Reflexion Ergebnisse: Im letzten und diesem Jahr haben über 30 Prozent unserer journalistischen Volontär*innen internationale Biografien.
Perspektivisch wäre es wichtig, dass vielfältige Journalist*innen noch stärker in programmprägende Rollen, Redakteursstellen oder Führungspositionen kommen. Diese Frage der Durchlässigkeit der Strukturen stellt sich zunehmend.
Aber vielleicht am wichtigsten finde ich, dass die journalistische Praxis immer wieder reflektiert wird, denn die Lage der politischen und öffentlichen Diskussion ändert sich und wir spielen in dieser Diskussion eine tragende Rolle. Zu dieser Reflexion gehört die Beschäftigung mit Fragen wie: Wer ist „wir“ in unserer Berichterstattung? Wer sind die Protagonist*innen? Wie stehen wir zur offenen Gesellschaft? Wie zur Meinungsvielfalt? Jenseits der größeren Maßnahmen gibt es hier auch ganz einfache Wege, die Vielfalt zum Tragen kommen lassen, und die für Journalist*innen alltäglich sind: Wer sagt was in welcher Rolle in dem Beitrag? Wer spricht als Expert*in im Studio? Aber auch: Wie sieht mein Publikum eigentlich aus? Schon dadurch ergibt sich ein anderes Bild der „Normalität“.
Wo sind die Grenzen solcher Maßnahmen?
Sie stoßen genau dort an ihre Grenzen, wo diese Diskussion um die journalistische Arbeit nicht mehr geführt wird. Das Kernproblem ist für mich hier: Während sich die Gesellschaft immer stärker pluralisiert, sind die starren Kategorien, die Zugehörigkeit definieren, immer noch präsent. Anders ausgedrückt: Trotz der Normalisierung der Vielfalt spiegelt sich diese Vielfalt in der Fläche der Medien meines Erachtens noch nicht ausreichend. Eine wie auch immer konzipierte Vielfalts-Strategie in den Medien muss also von der Grundsatzfrage ausgehen, welches Bild der Gesellschaft wir vermitteln wollen. Es geht weniger darum, zwangsläufig mehr Beiträge und Geschichten über Migration und Migrant*innen zu senden, sondern vielmehr darum, dass die Protagonist*innen dieser Gesellschaft und ihre Lebenswelten ohne Erklärungszwang in den Programmen sichtbar und hörbar werden.
Diese Sichtbarkeit ist kein Minderheitenangebot, Zugeständnis an Partikularinteressen oder Schritt zur gesellschaftlichen Fragmentierung. Vielmehr ist es die Chance, als öffentlich-rechtlicher Rundfunk der mediale Raum zu werden, in dem das vielfältige gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit abgebildet, verhandelt und diskutiert wird.
Der Text zu der Studie ist in Media Perspektiven zu finden:
Kurzfassung der Studie beim Mediendienst Integration:
https://mediendienst-integration.de/artikel/starke-vorbilder-gewuenscht.html
Über einige dieser Fragen sprach Iva Krtalic bei unserem diesjährigen Social Community Day mit Esra Karakaya. Das Video zu diesem Gespräch ist hier zu finden:
Angaben zur Person:
Dr. Iva Krtalic hat in ihrer Heimatstadt Zagreb für verschiedene Zeitungen und Verlage gearbeitet, bevor sie in den 1990er Jahren nach Köln kam. Im WDR hat sie als Hörfunk-Autorin und Redakteurin gearbeitet und ist seit 2016 Beauftragte für Integration und interkulturelle Vielfalt. Sie arbeitet daran, dass die kulturelle Vielfalt in den Programmen und im Personal des Senders als Teil der Normalität der Gesellschaft sichtbar und hörbar wird. Dazu gehören Projekte für die Gewinnung von journalistischem Nachwuchs, Diskussion über den medialen Umgang mit den Themen des interkulturellen Lebens, Mitgestaltung von Studien zu Medien und Einwanderungsgesellschaft und andere Projekte zur Stärkung der interkulturellen Kompetenzen im Sender. Iva hat in Zagreb und Berlin studiert und promovierte zum Thema Mediendiskurse der Nation und der kulturellen Unterschiede.