„Es gibt eine Tabelle, die Mark Zuckerberg vermutlich schlecht schlafen lässt. Das Google-Dokument trägt den Titel ‚Bestätigte Liste der #StopHateforProfit-Werbekunden‘. Es umfasst derzeit knapp 250 Namen, täglich kommen neue dazu. Je länger das Dokument wird, desto größer dürften die Sorgen des Facebook-Chefs werden: Jede Zeile steht für ein Unternehmen, das keine Anzeigen mehr auf der größten Kommunikationsplattform der Welt buchen will.“ (aus: Süddeutsche Zeitung, 30. Juni 2020)
Große Unternehmen aus den Vereinigten Staaten, aber mittlerweile auch aus anderen Ländern haben einen – zumindest temporären Werbeboykott – der Kommunikationsplattform Facebook angekündigt oder bereits realisiert, um auf diese Weise bessere Bedingungen im Umgang mit inhaltlich zweifelhaften Posts oder gar solchen, die zur Gewalt aufrufen, einzufordern. Die Liste der Unternehmen wächst, Facebook versucht, auf die eine oder andere Weise darauf zu reagieren. Welches Ergebnis dieser Boykott – der erste seiner Art in dieser Form – haben wird, ist derzeit völlig offen.
Diese massive (und öffentlichkeitswirksame) Zunahme der Kritik an Veröffentlichungen in den sozialen Medien scheint jedoch rein chronologisch nicht unbedingt ihren Anfang mit Facebook genommen zu haben.
Trump vs. Twitter
Im Mai 2020 hat Twitter einen Tweet des US-amerikanischen Präsidenten – der diesen Kurznachrichtendienst bekanntermaßen als Hauptkanal zur Verbreitung seiner politischen Entscheidungen und Einschätzungen nutzt – mit einem Faktencheck versehen.
„Es war bei Weitem nicht das erste Mal, dass Donald Trump Haltloses oder Irreführendes twitterte. Es war auch nicht das erste Mal, dass er im Kurznachrichtendienst – ohne jeden Beleg – einen vermeintlich drohenden, massiven und systematischen Betrug bei der im November anstehenden Präsidentschaftswahl anprangerte. Diesmal aber schritt Twitter ein.“
(Der SPIEGEL, 27.05.2020)
Twitter ergänzte die entsprechenden Nachrichten des Präsidenten mit Hintergrundinformationen zu Briefwahlen und widerlegte seine Äußerungen unter anderem unter Zurhilfenahme von Beiträgen von CNN und der Washington Post, beide „ausgewiesene Kritiker Trumps“, wie es in einem dpa-Video (abgerufen durch einen SZ-Artikel vom 27.05.2020) heißt.
Mehr zu den Twitter-Regularien ist hier zu finden.
In der Vergangenheit hat Twitter selten Maßnahmen gegen Desinformation ergriffen, da auch diese Plattform auf selbstregulierende Reaktionen der Nutzer(innen) setzte und die – in den USA bekanntlich sehr weit ausgelegte – Meinungsfreiheit nicht einschränken wollte. Mittlerweile (seit 2019) ist politische Werbung auf Twitter verboten und das Unternehmen ließ verlautbaren, dass „Botschaften politischer Führungsfiguren hinter einem Warnhinweis … [versteckt würden], sollten diese zu Gewalt oder Belästigung aufstacheln“. (Der SPIEGEL, 27.05.2020)
Der so explizit (fast) uneingeschränkten Redefreiheit in den Vereinigten Staaten ist es wohl geschuldet, dass Trump trotz seiner polarisierenden Tweets (um es einmal ganz vorsichtig auszudrücken) bislang nicht in seinem Veröffentlichungsdrang behindert wurde.
„Nirgends wird der Grundsatz der freien Rede so hochgehalten wie in den USA. Auch deshalb ist Twitter bemüht, so wenig wie möglich in die Debatte einzugreifen. Unwahre oder irreführende Behauptungen sowie die Einschüchterung politischer Gegner, für die Trump den Dienst regelmäßig nutzt, machen dies umso schwieriger.“ (Der SPIEGEL, 27.05.2020)
Patrick Beuth hat seinen Beitrag nachträglich aktualisiert und erläutert, dass Twitter in einem zweiten Schritt die Gründe für den Faktencheck erläutert und auf die firmeneigene Civic Integrity Policy verwiesen hat, in der es heißt: „You may not use Twitter’s services for the purpose of manipulating or interfering in elections or other civic processes. This includes posting or sharing content that may suppress participation or mislead people about when, where, or how to participate in a civic process.“ (Twitter, Rules and Policies)
Mit der Äußerung zum unterstellten Wahlbetrug änderte sich dies abrupt; und hat mutmaßlich unabsehbare Konsequenzen, deren Einschätzung derzeit immer nur tagesaktuell vorgenommen werden kann. Denn diese Art des Faktenchecks hat auch ihre Kritiker:
„Dass Twitter sich dann beim Faktencheck ausgerechnet auf ‚CNN, die ‚Washington Post‘ und andere‘ beruft und einfach mehrere Links auf Artikel und Tweets von Journalisten als Faktencheck verkauft, ist ebenfalls eine unpassende Entscheidung. Nicht, dass es grundsätzlich schlechte Quellen wären, aber niemand, der Trump ernst nimmt, wird diese Medien ernst nehmen. Hier hätte Twitter zumindest ein Statement der Wahlbehörden (in diesem Fall von Kalifornien) einholen oder zitieren müssen.“ (Kommentar von Patrick Beuth, Der SPIEGEL, 27.05.2020)
Trump reagierte allerdings wie zu erwarten war: Er warf der Plattform vor, jedes Recht auf freie Meinungsäußerung zu unterdrücken.
„Auf Twitter liest sich Trumps Drohung martialisch. Der US-Präsident schrieb dort am Mittwoch, er könne sich vorstellen, Social-Media-Anbieter ganz zu schließen oder zumindest stark zu regulieren, wenn diese das Recht auf freie Meinungsäußerung beschnitten.“ (Süddeutsche Zeitung, 28.05.2020)
Darüber hinaus kündigte er Konsequenzen an: Nur einen Tag später unterzeichnete er ein Dekret, das das „section 230“ genannte Gesetz einschränken soll. Dieses schützt Website-Betreiber vor Haftung, wenn Nutzer illegale Inhalte veröffentlichen.
Die Süddeutsche Zeitung schreibt dazu: „Twitter hat eine Aufklärungsdrohne geschickt, Donald Trump hat mit einer Atombombe geantwortet. So lassen sich die Ereignisse der vergangenen Tage in der Kriegsrhetorik des US-Präsidenten zusammenfassen. Nachdem Twitter eine der zahlreichen falschen Behauptungen Trumps mit einem Faktencheck versehen hatte, drohte dieser dem Unternehmen mit drastischen Konsequenzen. Das kommt regelmäßig vor, doch diesmal machte er die Ankündigung wahr: Kurz darauf unterzeichnete Trump ein Dekret, das längst nicht nur auf Twitter abzielt. Es könnte das Netz, wie wir es kennen, für immer verändern.“
Was Trump mit diesem Dekret verändern will, ist „section 230“ des „Communications Decency Act“. In diesem Gesetz ist unter anderem geregelt, dass Betreiber und Nutzer von Internetseiten und anderen Diensten vor Haftbarkeit im Hinblick auf die Veröffentlichung von Inhalten Dritter geschützt sind:
„Section 230 of the Communications Decency Act … is a piece of Internet legislation in the United States … At its core, §230(c)(1) provides immunity from liability for providers and users of an ‚interactive computer service‘ who publish information provided by third-party users:
No provider or user of an interactive computer service shall be treated as the publisher or speaker of any information provided by another information content provider.“ (Zitiert aus: Wikipedia, Artikel „Section 230 of the Communications Decency Act“)
Das Trump’sche Dekret legt allerdings den Schwerpunkt auf §230(c)(2), einen Paragrafen, der die Haftbarkeit der Betreiber in dem Fall ausschließt, in dem sie in guter Absicht („Good Samaritan“) Inhalte Dritter löschen, die sie als obszön oder beleidigend einstufen. Der US-amerikanische Präsident hält dies – so die Formulierung in seinem Dekret – für bedrohlich für die Redefreiheit:
„Online platforms are engaging in selective censorship that is harming our national discourse. Tens of thousands of Americans have reported, among other troubling behaviors, online platforms ‚flagging‘ content as inappropriate, even though it does not violate any stated terms of service; making unannounced and unexplained changes to company policies that have the effect of disfavoring certain viewpoints; and deleting content and entire accounts with no warning, no rationale, and no recourse.
Twitter now selectively decides to place a warning label on certain tweets in a manner that clearly reflects political bias. As has been reported, Twitter seems never to have placed such a label on another politician’s tweet. As recently as last week, Representative Adam Schiff was continuing to mislead his followers by peddling the long-disproved Russian Collusion Hoax, and Twitter did not flag those tweets. Unsurprisingly, its officer in charge of so-called ‚Site Integrity‘ has flaunted his political bias in his own tweets.“ (Zitiert aus: CNN, 28.05.2020. Hier ist auch der vollständige Wortlaut des Dekrets zu finden.)
Über den genannten Social Media Summit haben wir im vergangenen Jahr bereits im Grimme-Lab-Beitrag „Historie konservativer Medien: Abschied von Objektivität“ berichtet.
Das Verhältnis von Donald Trump zu verschiedenen Online-Plattformen ist seit einiger Zeit schwierig:
„United States President Donald Trump has been a major proponent of limiting the protections of technology and media companies under Section 230 due to claims of an anti-conservative bias. In July 2019, Trump held a ‚Social Media Summit‘ that he used to criticize how Twitter, Facebook, and Google handled conservative voices on their platforms. During the summit, Trump warned that he would seek ‚all regulatory and legislative solutions to protect free speech‘.“ (Quelle: Wikipedia)
Im jetzt unterzeichneten Dekret findet sich der Vorwurf wieder, entsprechende Plattformen seien voreingenommen und würden überwiegend bei Nachrichten und Meinungen konservativer Natur einschreiten. So heißt das vom Weißen Haus zur Verfügung gestellte Bild der Unterzeichnung (etwa bei Wikipedia veröffentlicht) dann auch „President Trump Signs an Executive Order on Preventing Online Censorship“ und stellt den Vorgang damit unter die Überschrift „Zensur“.
Auch die Sprecherin Trumps setzt das Dekret in diesen Kontext: „‚Republikaner hätten das Gefühl, dass „Social-Media-Plattformen die konservativen Stimmen völlig unterdrücken‘. Zutreffend ist allerdings vielmehr, dass einige Anbieter manche Beiträge und selten auch ganze Accounts der übelsten Verschwörungstheoretiker gelöscht haben. Davon waren bisher vermehrt Personen aus dem äußerst rechten Spektrum betroffen.“ (Süddeutsche Zeitung, 28.05.2020)
Selbstverständlich folgte auf diese Dekretunterzeichnung eine Fülle an Kommentaren und Einschätzungen. Was ist davon zu halten, welche Konsequenzen müssen die Betreiber solcher Dienste befürchten?
Bei einer zeitlich begrenzten Presseschau zeigt sich: Die meisten Medien gehen nicht davon aus, dass Trump seine Pläne ohne Probleme oder gar schnell wird umsetzen können. Ein Beispiel:
„The executive order tests the boundaries of the White House’s authority. In a long-shot legal bid, it seeks to curtail the power of large social media platforms by reinterpreting a critical 1996 law that shields websites and tech companies from lawsuits. But legal experts on both the right and the left have raised serious concerns about the proposal. They say it may be unconstitutional because it risks infringing on the First Amendment rights of private companies and because it attempts to circumvent the two other branches of government.“
(CNN, aktualisiert am 29.05.2020)
Unmittelbar zur Einschüchterung von Twitter trug das Dekret nicht bei: „Twitter hat erneut einen Tweet von US-Präsident Donald Trump mit einem warnenden Hinweis versehen. In einer Äußerung Trumps zu den Ausschreitungen gegen Polizeigewalt in Minneapolis würden die Richtlinien zur Gewaltverherrlichung verletzt, teilte das Unternehmen in einem Thread auf Twitter mit.“ (Tagesschau, 29.05.2020)
Der entsprechende Tweet trägt (in Deutschland) nun den Zusatz: „Dieser Tweet verstößt gegen die Twitter Regeln zur Gewaltverherrlichung. Twitter hat jedoch beschlossen, dass möglicherweise ein öffentliches Interesse daran besteht, diesen Tweet zugänglich zu lassen.“ Nutzer können sich weitere Informationen oder den Tweet selbst anzeigen lassen. (Der Tweet von Donald Trump kann an dieser Stelle nicht gezeigt werden, da er beim Einbetten den Twitter-Zusatz verliert. Im oben zitierten Tagesschau-Artikel findet sich allerdings ein direkter Link.)
Bei einer Reihe weiterer Trump-Tweets zum Thema Wahlbetrug schritt Twitter seitdem übrigens nicht ein. Auf entsprechende Fragen, warum dies so sei, wurde auf den Umstand verwiesen, dass diese Tweets im Unterschied zum ersten die Plattformregeln nicht verletzen:
„The distinction Twitter is drawing is that there’s a difference between questioning the integrity of mail-in voting as a broad concept, versus suggesting that voting procedures in a particular state are fraudulent. The two posts Twitter fact-checked in May specifically called out California.“
CNN, 15.07.2020
Da Twitter sich – ebenso wie Facebook – nicht in der Rolle des Schiedsrichters in Wahrheitsfragen („arbiter of truth“) sieht, bleiben die Regeln, aufgrund derer Tweets gelöscht oder kommentiert werden, recht spezifisch. Im Kontext der Präsidentenäußerungen zur Briefwahl heißt dies: Wenn Trump Bezug nimmt auf eine konkrete Wahl, kann Twitter einschreiten. Wenn er allgemein von Wahlbetrug redet, eben nicht.
Die Auseinandersetzung zwischen Trump und Twitter wird fortgesetzt, die weiteren Entwicklungen bleiben mit Sicherheit interessant.
(Bereits wenige Tage nach der Dekretunterzeichnung hat das Center for Democracy and Technology (CDT) / Washington Klage dagegen eingereicht, wegen des Verstoßes gegen den ersten Verfassungszusatz, wie die Washington Post am 02.06. 2020 berichtet. (Hinweis: Nur eine begrenzte Anzahl an Artikeln der Washington Post ist monatlich kostenfrei abrufbar.))
Bemerkenswert ist bereits jetzt, dass dieser Konflikt einen weiteren nach sich gezogen hat: Die Haltung von Twitter hat dazu geführt, dass auch an Facebook und Mark Zuckerberg Forderungen gestellt werden, sich deutlicher gegen Desinformation und Hass zu positionieren. Zu den ersten diesbezüglichen Äußerungen zählten solche von Facebook-Mitarbeitern selbst:
„Facebook-Mitarbeiter kritisieren öffentlich die Entscheidung von Firmengründer Mark Zuckerberg, anders als Twitter nicht gegen eine umstrittene Äußerung von US-Präsident Donald Trump vorzugehen.“
Tagesschau, 02.06.2020
Aus solchen und ähnlichen Forderungen entstand schließlich der Werbeboykott, der am Anfang dieses Beitrags genannt wurde und den wir in einem weiteren Grimme-Lab-Beitrag beschreiben werden.
Hier noch einmal eine Chronologie der Entwicklung bei der Tagesschau:
- Mai
Trump legt sich mit Twitter an
Die Lüge vom Wahlbetrug
Trump droht Twitter mit Schließung - Mai
Trump will soziale Netzwerke umkrempeln
Trump unterzeichnet Erlass zu Sozialen Medien - Mai
Kritik an Trumps Twitter-Feldzug
Trump-Tweet „gewaltverherrlichend“
Von „Covfefe“ bis zur offenen Hetze - Juni (ab hier steht Facebook in der Kritik)
„Mark liegt falsch“ - Juni
Zuckerberg bleibt stur