Wie nehmen Sie die aktuelle demokratische Öffentlichkeit wahr?
Ich arbeite für Demokratie online und würde mich deshalb auf die digitale Öffentlichkeit konzentrieren. Ich sehe in Zeiten der Coronavirus-Pandemie, in denen wir uns befinden, online einerseits eine massive Zunahme von Suche nach verlässlichen Informationen aus glaubwürdigen Quellen sowie eine große Welle von Solidarität und Zusammenhalt von vielen, diese gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu tragen und zu übernehmen, auf der positiven Seite. Andererseits bildet sich viel Frustration und Erschöpfung ab. Alle fühlen sich von der Pandemie betroffen und zugleich ungerecht behandelt – etwa die Eltern und Kinder in ihrer Überlastung, die Senior*innen und die Kinder in ihrer Einsamkeit, die Singles zwischen Langeweile und Abgeschiedenheit, die Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen gefordert durch die neue Situation. Und wo die Erschöpfung zunimmt, kochen die Emotionen hoch, Ängste nehmen zu, Schuldige werden gesucht. Und so bewegen wir uns schrittweise in den Bereich von Öffentlichkeit, der gerade auch massiv wächst – der Bereich, wo Menschen Wut und Irrationalität besser ertragen können als Ängste und Unsicherheiten: In die digitalen Öffentlichkeiten, in denen etwa als „Corona-Rebellen“ Menschen Zuflucht in Verschwörungsideologien suchen, die ihnen Schuldige für ihre Misere bieten: die Regierung, die Wissenschaft, die Weltverschwörung geheimer Elitenbünde. Menschen, die Verschwörungsideologien glauben, koppeln sich ab von der Realität in eine wahnhafte Welt. Darunter leiden nicht nur ihre Angehörigen, Freund*innen und Kolleg*innen. Da die Verschwörungsideologien Handlungszwang und Gewaltaufrufe beinhalten, kommt es auch zu verbalen und physischen Angriffen auf die als „Schuldige“ wahrgenommenen Gruppen: als asiatisch gelesene Menschen, jüdische Menschen, Ärzte und Ärztinnen, Wissenschaftler*innen, Politiker*innen.
Könnte politische Bildung da helfen?
Politische Bildung gibt Menschen das Handwerkszeug, zu verstehen, wie politische Prozesse in Deutschland und der Welt funktionieren, wie jede*r Einzelne Einfluss nehmen kann – und ist damit eine Grundvoraussetzung, um immun zu werden etwa für Verschwörungserzählungen von „Geheimwissen“, von weltweiten, strippenziehenden Netzwerken kleiner Eliten oder Geheimbünden mit Zugriff auf 5G-Masten. Politische Bildung kann Menschen vermitteln, nach welchen Mechanismen Verschwörungserzählungen funktionieren, und damit helfen, neue Verschwörungserzählungen zu erkennen. Menschen können durch Bildungsangebote Ambiguitätstoleranz lernen, aber auch die Fähigkeit, Kritik sachbezogen und ohne Abwertungen zu äußern – und Medienkompetenzerziehung hilft, zu erkennen, wie vertrauensvoll Quellen im Internet sind. Ähnlich ist es natürlich im Umgang mit Populismus und Desinformationen. Wenn ich verstehe, was Rechtspopulist*innen sagen und was sie damit meinen, falle ich nicht mehr so leicht auf Parolen herein.
Welche Herausforderungen ergeben sich in Ihrem Arbeitsfeld im Hinblick auf den Umgang mit Rechtspopulismus?
Die Rechtspopulist*innen und Rechtsextremen in Deutschland nutzen aktuell das Internet als ihr Hauptagitationsfeld, um Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Regierungsschelte und Verleumdungen über Andersdenkende zu verbreiten. Sie sind dabei schnell, sie sprechen verschiedenste Zielgruppen in verschiedensten Formaten an, sie sind enorm engagiert und geben dafür auch ihr gesamtes Sozialleben drein oder auch – als YouTuber und Instagram-Aktivist*in etwa – preis. In der deutschen Gesellschaft gibt es dafür inzwischen ein Bewusstsein, auch dafür, dass Social Media inzwischen ein enorm wichtiger Meinungsbildungsraum ist, den man nicht antidemokratischen Kräften überlassen kann, ohne dass der gesellschaftliche Schaden groß ist. So gibt es Gegenrede durch Nutzer*innen – die sich damit aber auch selbst in Gefahr bringen. Es gibt teilweise Moderation auf größeren Social Media-Kanälen von Medien, Parteien, Organisationen – aber noch viel zu wenig, um ein sicheres und angenehmes Debattenklima zu haben, in dem alle mitsprechen könnten. Maßnahmen der Sozialen Netzwerke wie auch der Politik konzentrieren sich auf die strafrechtlich relevanten Aspekte von Hate Speech, doch die nicht strafbare, aber ebenso toxische Sprache der Rechtspopulist*innen stellt ein ebenso großes wenn nicht gar größeres Problem dar. Ein Hakenkreuz erkennt jeder Nutzer leicht als rechtsextrem – eine rassistische Argumentation nicht immer. Hier braucht es Sensibilisierung, Fortbildungen und immer wieder Berichterstattung über die neuesten verbalen Volten und passende Gegenstrategien. Denn größere Teile der deutschen Onlinecommunity sind durchaus willig, rechtspopulistischen Argumentationen entgegen zu treten – aber auch zugleich ziemlich hilflos. Diese Menschen stärken wir.
Wo sehen Sie die Grenzen dessen, was politische Bildung erreichen kann?
Einen überzeugten Rechtsextremen oder Verschwörungsgläubigen, die nicht zuhören wollen und Argumenten nicht zugänglich sind, die erreicht auch politische Bildung nur schwer bis kaum – auch wenn sie vielleicht Zweifel säen kann. Aber politische Bildung stärkt die Demokrat*innen, gibt ihnen Handwerkszeug, die Werte und Ideale zu verteidigen und zu verbreiten, die ihnen wichtig sind. Wenn die Grenze zur Gewalt oder gar zum Terrorismus überschritten wird, endet für mich das gesamte zivilgesellschaftliche Engagement: Dem kann man nur mit Polizei und Justiz, nicht mit Bildung und Gesprächsrunden begegnen.
Wo sehen Sie Aufgaben, die über Ihren Bereich hinausgehen und etwa von der Politik [Stichwort: Maßnahmen und Initiativen] oder der Gesetzgebung [Sanktionierung bestimmter Entwicklungen] übernommen werden müssten?
Im Bereich des Umgangs mit Online-Hass und Rechtsextremismus wurde vor nicht allzu langer Zeit das Netzwerkdurchsetzungsgesetz eingeführt, das allerdings noch viel Verbesserungsbedarf hat und so bisher wenig hilfreich für Betroffene von Online-Hass ist. Es wird in diesem Jahr überarbeitet, was teilweise auf Besserung hoffen lässt – etwa durch mehr Regulierung der Meldewege und der Transparenzberichte der Netzwerke für bessere Vergleichbarkeit des Phänomens auf verschiedenen Plattformen oder durch die Einführung eines Put-Back-Verfahrens für zu Unrecht gelöschte Inhalte. Andererseits werden Kernproblematiken wie Übertragung der Rechtsentscheidungen zu Meinungsfreiheitsfragen an Privatunternehmen in den Neuentwürfen noch verschärft. Und weiterhin geht es nur um strafbare Inhalte, nur um die bereits kooperativen Sozialen Netzwerke und nicht um die echten Problembereiche wie Gamingplattformen, Messengerdienste oder unkooperative Netzwerke wie etwa das VK-Netzwerk. Insgesamt hat das NetzDG nicht zu weniger Hass auf Plattformen geführt, sondern zu modifiziertem, geschickter formuliertem Hass.
Was ich mir also von der Politik wünsche: Förderung und Ermöglichung von wissenschaftlicher Forschung im Digital-Bereich, damit die Gegenmaßnahmen besser werden – hier sollten die Sozialen Netzwerken zu mehr Transparenz etwa ihrer Algorithmen und ihrer Empfehlungssysteme zumindest für die wissenschaftliche Forschung reguliert werden, damit es endlich Antworten geben kann auf Fragen etwa nach der Radikalisierung online. Ich wünsche mir eine kontinuierliche und im Erfolgsfall nicht nur projektbezogen mögliche Förderung zivilgesellschaftlicher Bildungs- und Beratungsarbeit, denn die brauchen wir bundesweit und langfristig. Und ich wünsche mir eine Aufnahme von Medienkompetenzerziehung in Schulcurricula bundesweit, weil ich glaube, dass das eine der zentralen Qualifikationen ist, um jetzt und in Zukunft bewusst und selbstbestimmt politisch handeln zu können.
Simone Rafael ist Journalistin und arbeitet seit 2002 für die Amadeu Antonio Stiftung im digitalen Raum. Sie ist Chefredakteurin des Online-Magazins www.belltower.news – Netz für digitale Zivilgesellschaft. Daneben leitet sie das Digitalteam der Amadeu Antonio Stiftung, entwickelt hier Ideen gegen Rechtsextremismus und Hate Speech im Internet in Form von Kampagnen, Argumentationstrainings und Projektarbeit und berät Organisationen, Politik, Medien und Zivilgesellschaft zum Umgang mit Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus online.