Wie nehmen Sie die aktuelle demokratische Öffentlichkeit wahr?
Während ich diesen Text schreibe, befinden wir uns in der Corona-Pandemie. Die auferlegten Beschränkungen sind notwendig, aber massiv. Zentrale demokratische Rechte sind vorübergehend suspendiert worden: die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit z.B. Öffentlichkeit, zumindest im physischen Sinne, findet praktisch nicht statt. Die Berichterstattung und Diskussionen in den Medien konzentrieren sich mit geschätzten 80% auf „Corona“. Auch sinnbildlich ist Öffentlichkeit stark reduziert: Die Menschen müssen Mund und Nase verdecken. Zur demokratischen Öffentlichkeit gehört aber auch, offen sein Gesicht zu zeigen.
Nun wird das irgendwann vorübergehen. Wichtig wird dann sein, die außer Kraft gesetzten demokratischen Grundrechte wieder zurückzuholen
Ob es aber so sein wird wie „vor Corona“, bleibt abzuwarten. Denn wie frei und unbefangen werden wir uns dann begegnen, miteinander diskutieren und uns gegebenenfalls streiten? Ich halte die Frage für berechtigt, denn über viele Wochen, möglicherweise Monate hinweg, sind uns andere Menschen als Bedrohung entgegengetreten, haben wir Abstand gehalten, sie auf den Straßen und in den Läden umkurvt, denn sie könnten uns ja infizieren. Die anthropologische Annahme von Thomas Hobbes drängt sich auf: der Mensch ist wohl doch dem Menschen ein Wolf.
Doch auch früher (das ist erst wenige Monate her!) wurde vielfach ein Verfall der Öffentlichkeit registriert und diagnostiziert: Die Gründe sind bekannt: Individualisierung, Singularisierung, Fragmentierung, Szenebildungen, Zersplitterung der Medienlandschaft … Es sind viele Nischen entstanden, Einzugs- und Rückzugsorte, in denen man sich mit sich selbst und mit Seinesgleichen beschäftigen und sich wechselseitig bestätigen konnte. „Die Anderen“ braucht man oft nicht mehr, die eigene Welt ist selbstreferentiell.
Eine absurde Situation ist eingetreten: Wir haben mehr denn je die Möglichkeit, miteinander zu kommunizieren, uns zu informieren, uns weiter- und fortzubilden. Aber es sind Filterblasen entstanden, in denen mit absoluter Gewissheit die Welt und die Gesellschaft gedeutet und von den Nutzer*innen bestätigt wird. Der für eine vitale Demokratie notwendige öffentliche Diskurs wird auf betriebswirtschaftlich messbare Einschalt- und Absatzquoten reduziert und damit kannibalisiert. Eine zentrale neue Währung ist entstanden: Aufmerksamkeit. Möglichst viel davon zu absorbieren, mit welchen Mitteln auch immer, ist zum beruflichen Auftrag von Politiker*innen, Journalist*innen und Bildungsanbieter*innen geworden. Ganze Wirtschaftszweige beschäftigen sich mit Strategien und Mitteln, möglichst viel Aufmerksamkeit auf die Angebote ihrer Auftraggeber zu richten. Doch Menschen haben dafür nur begrenzte Kapazitäten. Die Aufmerksamkeit für die eine Sache verhindert die Wahrnehmung von einer anderen. Was bleibt dann in einer reizüberfluteten Gesellschaft noch übrig für die Konzentration auf die allgemeinen, die öffentlichen Angelegenheiten?
Überhaupt: Welche Institutionen, Organisationen und Initiativen haben in einer pluralisierten (Konkurrenz-)Gesellschaft noch den Blick auf eine altmodische Idee wie Gemeinwohl? Damit kein Missverständnis aufkommt: dieser Begriff ist schändlich missbraucht worden, aber er hat dennoch im Kern seine Berechtigung: Demokratie ist mehr als die jeweils eigenen Interessen wahrnehmen und durchsetzen zu können. Vielmehr ist Anspruch und Ziel einer Demokratie, die maximal mögliche Gerechtigkeit für die größtmögliche Zahl der in ihr lebenden Menschen zu ermöglichen. Die Voraussetzung dafür, dass das von allen Mitgliedern akzeptiert wird, ist eine aufgeklärte Öffentlichkeit.
Wie definieren Sie das Feld „Politische Bildung“?
Eine allgemein verbindliche, allseits akzeptierte Definition von politischer Bildung gibt es nicht. Schon alleine deswegen nicht, weil es drei Felder politischer Bildung gibt: die für die allgemeinbildenden Schulen zuständige Politikdidaktik, die politische Erwachsenenbildung und die außerschulische Jugendbildung. Jeweils bestehen Unterschiede bei den institutionellen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, den Erwartungen der Schüler*innen oder Teilnehmer*innen und dem Verständnis von der Profession. Allein im überschaubaren Feld der politischen Erwachsenenbildung lassen sich Ziele nicht ohne weiteres so benennen, dass sie die Zustimmung aller Standpunkte, Sichtweisen und Theorien finden würden. In der politischen Erwachsenenbildung spiegelt sich in der Vielfalt ihrer Organisationen, Träger, Institutionen und Einrichtungen die Realität einer pluralen Demokratie. Ihr entsprechend gibt es viele Ansichten darüber, was politische Bildung bezwecken soll. Doch letztendlich geht es in ihr aber immer darum, Verständnis für die Alternativlosigkeit einer sozialen Demokratie zu wecken und zu festigen, die demokratischen Regelungen und Entscheidungswege einsichtig zu machen, ein Engagement für die Einhaltung und Verteidigung der Menschenrechte zu bewirken und sich der Ablehnung von Extremismus, Totalitarismus und Diskriminierungen bewusst zu sein. Das versteht sich nicht von selbst, denn die Menschen werden nicht unbedingt als Demokraten geboren: „Demokratie ist die einzige politisch verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss – immer wieder, täglich und bis ins hohe Alter hinein.“ Dieser Satz von Oskar Negt ist einer der wenigen, der über die Grenzen der Trägerinteressen hinaus breite Zustimmung findet.
Folgerichtig steht im Zentrum von politischer Bildung die Demokratie als normative Idee. Eng damit verbunden geht es um die kritische Bewertung der praktizierten gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die Partizipationschancen der Bürgerinnen und Bürger sowie die Formen und Wege, wie die Konflikte und unterschiedliche Meinungen und Interessen ausgetragen werden.
Diese normative Ausrichtung politischer Bildung basiert auf der Beschäftigung mit „Politik“. Deren Schlüsselkategorien und zentrale Begriffe sind Konflikte, Interesse, Macht, Konsens, Herrschaft. Diese Kategorien bieten Möglichkeiten, in Bildungsveranstaltungen das „Politische“ aufzuspüren und zu begreifen. So kann u.a. danach gefragt werden: Wer ist am Konflikt beteiligt? Welche Interessen sind im Spiel? Wie und mit welchen Mitteln setzen sie sich durch? Welche Interessen sind zwar vorhanden, sind aber nicht durchsetzungsfähig? Warum? Welche Regeln und Prozesse gibt es, um allgemeine Verbindlichkeiten herzustellen? Wie demokratisch sind die Verfahren? Welche Formen und Wege sind vorhanden (oder denkbar), um eine Willensbildung wirksam herbeizuführen? Welche Hindernisse gibt es?
Darüber hinaus besteht die professionelle Fähigkeit von politischen Bildner*innen darin, diese Fragen zu übersetzen in attraktive Veranstaltungsangebote, die Lust machen, an ihnen freiwillig teilzunehmen. Da gibt es kein curriculares Korsett, sondern alle beteiligen sich selbstbestimmt, gleichberechtigt und mit der Aussicht auf Handlungsmöglichkeiten in der realen Politik. Dabei geht es nicht nur um „die Sache“, sondern auch die Möglichkeit, intressante Menschen, neue Ideen und überlegenswerte Standpunkte kennenzulernen. Dafür muss in den Bildungsveranstaltungen Raum und Gelegenheit gegeben werden. Neben sachlichen, fachlichen und methodischen Kompetenzen brauchen politische Bildner*innen Empathie, Bereitschaft zur Selbstreflexion und zum Selbstzweifel, Offenheit für eigenwillige Lernprozesse und Bildungswege, Konfliktfähigkeit und ein Gespür für die Prozesse in den Kurs- und Seminargruppen und die Fähigkeit, diese ausgewogen moderieren zu können.
Welche Herausforderungen ergeben sich in Ihrem Arbeitsfeld im Hinblick auf den Umgang mit Rechtspopulismus?
Rechtspopulist*innen imaginieren ein homogenes, d.h. durch Nation, Ethnie oder „Rasse“ einheitliches, „reines“ „Volk“. Mit ihren Ideologien und Programmen wird ein generalisierendes „Wir“ konstruiert und postuliert. Dem gegenüber stünde einmal ein „Kartell“ der Eliten, bestehend aus Politik, Wirtschaft, Presse und Bildung, welches „das Volk“ dirigiere, manipuliere, beherrsche und um seine Identität beraube. Zum anderen würde das homogene „Volk“ durchsetzt, aufgelöst, man kann sagen „verunreinigt“ durch „Fremdes“ und „Fremde“, durch Zuwander*innen aus „nicht hierhergehörenden“, „nicht zu uns passenden“ Kulturen, Ethnien, Lebensformen, Religionen. Sie brächten Kriminalität, plünderten den Sozialstaat und untergrüben durch mangelnde Bildung „unser“ geistiges Niveau und veränderten durch ihre zahlreichen Kinder langfristig die demographische Struktur und die deutsche Identität.
Rechtspopulist*innen wollen den pluralen, liberalen Staat, der die gleichen Rechte für alle Menschen garantiert, abschaffen. An seine Stelle soll der wie auch immer, vermutlich durch Akklamation zustande kommende „Volkswille“ stehen.
Diese Positionen und Ziele stehen in einem fundamentalen Widerspruch zu der in der vorhergehenden Antwort beschriebenen politischen Bildung. Sie ist damit konfrontativ herausgefordert, der weiteren Verbreitung rechtspopulistischer Meinungen und Zustimmungen in der Mitte der Gesellschaft entgegenzuwirken. Folgerichtig ist politische Bildung für die AfD, eine Partei, die zwischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus fließende Übergänge hat, ein Dorn im Auge. Wo und wenn immer möglich, versuchen die Mitglieder und Anhänger dieser Partei, politische Bildungsveranstaltungen zu kontrollieren, die Inhalte oder die Referent*innen in Frage zu stellen und das Absetzen der Veranstaltungen zu fordern, bei denen entweder die AfD oder sonstige rechtspopulistische Erscheinungen thematisiert werden. Das geschieht oft mit dem Hinweis auf den – von ihnen falsch ausgelegten – Beutelsbacher Konsens.
Politische Bildner*innen müssen daher den Mut bzw. die Zivilcourage haben, dem standzuhalten. Zum anderen stellt sich für sie die Frage nach geeigneten Bildungskonzepten. Mit ihren Veranstaltungen werden sie Rechtspopulist*innen allenfalls als Störer erreichen. Sie sind dann gekommen, um mit ihrer Wortergreifungsstrategie einen diskursiven, meinungsbildenden Verlauf unmöglich zu machen. Aber politische Bildung kann diejenigen ansprechen, die sich gegen rechtspopulistische Meinungen und Entwicklungen engagieren möchten. Das ist alles andere als wenig. Denn eine starke demokratische Zivilgesellschaft ist die beste Garantie für den Fortbestand einer offene und pluralen Gesellschaft. Dazu kann politische Bildung sehr viel beitragen.
Wo ziehen Sie die Grenzen dessen, was politische Bildung erreichen kann?
Gleich vorweg: Politische Bildung kann die Welt nicht verändern, sie kann aber dazu beitragen, die Gesellschaft offener und demokratischer, das Leben humaner zu machen. Politische Bildung ist keine Politik, aber in ihren Veranstaltungen wird Politik reflektiert, werden Entscheidungen diskutiert und auch kritisiert. Die Kritikfähigkeit ihrer Teilnehmer*innen zu verbessern ist ein Ziel politischer Bildung. Ein kritischer Verstand ist keine nörgelnde Besserwisserei und erhebt keinen Anspruch auf absolute Gewissheiten. Der gut bedachte Einsatz von Vernunft, das konstruktive Aufzeigen von Alternativen zum Bestehenden ist gemeint. Dabei ist mitgedacht, dass diese Ideen, in den Kursen, Seminaren oder bei den Vorträgen politischer Bildung entwickelt, aus den Tagungshäusern und Gebäuden der Bildungseinrichtungen in die Gesellschaft hineingetragen und dort verhandelt werden, wenn nötig, mit direkter Adresse an „die Politik“. In deren Gremien wird dann entweder darüber verhandelt, die Ideen und Vorschläge werden vielleicht für plausibel gefunden oder sie werden verworfen. Gewählte Politiker*innen entscheiden, was zur Verordnung oder zum Gesetz wird, nicht das Forum einer Bildungsveranstaltung. Da verläuft die Grenze politischer Bildung, aber davor ist das Feld offen.
Eine weitere Begrenzung der Möglichkeiten politischer Bildung besteht darin, dass ein Großteil ihrer Veranstaltung nur „Eintagsfliegen“ sind, d.h. Vorträge oder Kurzzeitkurse. Zumindest bei den Volkshochschulen ist das so, aber auch bei anderen Einrichtungen, die politische Bildung im Angebot haben. Das hängt damit zusammen, dass für viele Adressat*innen die Zugangsbarrieren zu den Veranstaltungen zu hoch sind, sei es, dass die Teilnahmegebühren abhalten oder der unmittelbar verwertbare Nutzen nicht eingesehen wird. Politische Bildung erreichte bisher immer nur eine engagierte Minderheit, das wird sich wohl auch nicht ändern. Zu ihren Veranstaltungen kommen in der Regel diejenigen nicht, um die es eigentlich gehen sollte, die Politik als „ein schmutziges Geschäft“ betrachten oder Fundamentalisten und Populisten, die alles besser wissen. Dagegen erscheinen die an Politik Interessierten und die, die sich informieren und/oder selbst politisch aktiv sein wollen. Politische Bildung ist eine Konfirmation der bereits Konfirmierten – immerhin!
Wo sehen Sie Maßnahmen, die über Ihren Bereich hinausgehen und etwa von der Politik oder der Gesetzgebung übernommen werden müssten?
Ein zentrales Problem einer öffentlichen politischen Bildung ist die Verbetriebswirtschaftlichung des Staates, der Gesellschaft und des Lebens. Und zwar aus den folgenden Gründen: Wenn alles nur nach einem finanziellen Kalkül berechnet wird und nur das bestehen soll, was sich auszahlt, dann werden „nicht kostendeckende“ Jugendzentren, Kultur- und Bildungseinrichtungen geschlossen oder zumindest gedeckelt. Die Mitarbeiter*innen dort stehen unter einem permanenten Legitimationsdruck und müssen ihre Arbeit durch schwarze Zahlen rechtfertigen. Dabei bleiben Programmideen auf der Strecke, die innovativ und explorativ sind, vor allem die, die aufwendige Werbung für besonders wichtige Zielgruppen erfordern. Das sind in der Regel diejenigen, die aus eigener Initiative nicht zu den Veranstaltungen kommen oder sich gänzlich verweigern. Unter den ökonomisierten Bedingungen ist der Zeitaufwand für Feldforschung, Planung und Werbung zu groß, auch ist dabei das Risiko des Scheiterns zu hoch. Aber gerade in der Erkenntnis dessen, was gescheitert ist, steckt ein Potenzial zur Weiterentwicklung.
Hinzu kommt, dass der Rückzug auf „sichere“ Veranstaltungen, dass geschlossene, unrentable Bildungs- und Kultureinrichtungen sowie Jugend- und Begegnungszentren Platz und Raum bieten für „alternative“ Angebote. Rechtsextremist*innen haben in vielen Orten, gerade in abgehängten Gegenden, diese Lücke als ihre Chance begriffen. So schafft sich der demokratische Staat seine Feinde.
Politische Bildung muss sich auf einem Markt der pluralen Angebote behaupten, sie muss aber auch die Sicherheit haben, dass ihre Angeboten Versuche sind, die den Irrtum nicht ausschließen.
Klaus-Peter Hufer, Dr. rer. pol phil. habil. und apl. Professor, war viele Jahrzehnte von 1976 – 2015 hauptberuflich in der Erwachsenenbildung tätig, lehrt an der Fakultät Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen.
Er hat zahlreiche Veröffentlichungen verfasst, eine Auswahl neuerer Bücher:
- Zivilcourage – Mut zum Widerspruch und Widerstand, Wien und Hamburg 2020
- Argumente am Stammtisch – Erfolgreich gegen Parolen, Palaver und Populismus, Schwalbach/Ts.,; 8. komplett überarbeitete und aktualisierte Auflage, Schwalbach/Ts. 2019
- Neue Rechte, altes Denken – Ideologie, Kernbegriffe und Vordenker, Weinheim und Basel 2018
- Argumente gegen Parolen und Populismus, Schwalbach/Ts. 2017
- Argumentationstraining gegen Stammtischparolen. Materialien und Anleitungen für Bildungsarbeit und Selbstlernen, Schwalbach/Ts. 2000, 10. Aufl., Schwalbach/Ts. 2016
- Politische Erwachsenenbildung. Plädoyer für eine vernachlässigte Disziplin, Bielefeld 2016, auch erschienen als Band 1787 der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2016
- Politik wagen – Ein Argumentationstraining (zusammen mit Christian Boeser-Schnebel, Karin Schnebel und Florian Wenzel) , Schwalbach/Ts. 2016
- Was soll ich tun, wie können wir handeln? – Eine Einführung in die praktische Philosophie/Ethik, Kempen 2016
- Wo steht die außerschulische politische Jugend- und Erwachsenenbildung? GPJE-Schiften zur politischen Jugendbildung, Schwalbach/Ts. (zusammen mit Tonio Oeftering und Julia Oppermann, Schwalbach/Ts. 2018
- Handbuch politische Erwachsenenbildung (zusammen mit Dirk Lange), Schwalbach/Ts. 2016