Autorin: Ina Bierfreund, Litauen
Ich sitze auf dem Bett ganz hinten in unserem Van, neben mir Tim Noetzel mit Kopfhörern auf. Er sucht nach passender Musik für unsere entstehende Dokumentation. Auf der Sitzbank im vorderen Bereich hat es sich Felix Hartge bequem gemacht, auch er schaut konzentriert auf seinen Laptop: Er bastelt gerade an unserem Trailer. Der Holzofen knistert und macht es trotz der ungemütlichen Temperaturen draußen schön warm in unserem Zuhause. Bereits seit sieben Monaten leben wir in dem selbstausgebauten Sprinter Oswald. Jede Nacht verbringen wir an einem anderen atemberaubenden Ort Europas, irgendwo mitten in der Natur...
Noch vor einem Jahr saßen wir nicht die ganze Zeit gemeinsam auf acht Quadratmetern aufeinander, sondern in einer geräumigen WG in Hamburg. Auch dort verbrachten wir viel Zeit miteinander, träumten von einer Reise durch Europa und vielen spannenden Gesprächen mit Menschen unserer Nachbarländer. Wir drei sind Anfang 20, haben unser Bachelorstudium in ganz unterschiedlichen Bereichen abgeschlossen und waren bereits auf verschiedenen Kontinenten unterwegs. Jetzt hatten wir das dringende Bedürfnis, Europa besser kennenzulernen, fernab der bekannten Reiseziele.
Außerdem haben wir während unserer WG-Zeit viel über den weltweiten Rechtsruck diskutiert und uns gefragt, was Menschen außerhalb unserer Studierenden-Blase denken. Wie sehen sie die politische Entwicklung? Bedroht der aufkommende Populismus den Gemeinschaftsgedanken der Europäischen Union? Driften wir immer weiter auseinander? Wie können wir das besser herausfinden, als verschiedenste Menschen selbst kennenzulernen, dachten wir uns. Nach und nach entwickelte sich unsere Reiseidee zu einem Projekt.
Gerne wollen wir die Stimmen, die wir auf unserer Reise einfangen, mit so vielen Menschen wie möglich teilen. Um das zu ermöglichen entschieden wir uns dafür, die Gespräche aufzuzeichnen und aus unserem Material eine Dokumentation zu basteln. Somit können wir den Menschen, denen wir begegnen, eine Stimme geben. Menschen, die sich sonst nicht politisch in der Öffentlichkeit äußern. Menschen, wie du und ich. Menschen aus allen Ländern der EU.
Der Plan wurde in unseren Köpfen immer präziser. Damit dieser Traum auch Realität werden kann, kaufte Tim vor genau einem Jahr unseren Van. Felix widmete die darauffolgenden Monate dem Ausbau unseres neuen Zuhauses. Ich bastelte währenddessen an unserer Website.
Im September letzten Jahres war es dann endlich soweit. Wir sind aus unserer Wohnung ausgezogen, haben uns für die kommenden Monate von unseren Freunden und Familien verabschiedet und haben die wichtigsten Sachen in den Van gepackt.
Das Abenteuer sollte beginnen.
Allerdings lief nicht alles rund – wie vermutlich immer bei dem Start eines neuen Lebensabschnitts. Bevor es überhaupt losging, bekamen wir einen Lagerkoller. Für einige Tage stand das Projekt auf der Kippe, doch wir alle hatten viel investiert: Zeit, Geld, Ideen und so viele Pläne. Wir rauften uns zusammen, sprachen alles aus und schöpften neuen Mut. Erneut kam Vorfreude auf und unglaublich viel Interesse an dem, was uns wohl erwartet.
Somit begannen wir unsere Reise zwar ein paar Tage später als geplant, sind allerdings, wie nach jeder Krise, ein klein wenig enger zusammengerückt. Voller Motivation fuhren wir unseren ersten Stopp an: Luxemburg. Wir lernten viel über das kleine Land, zum Beispiel, dass es dort drei offizielle Landessprachen gibt. Nach einigen schönen Tagen und unseren ersten beiden Interviews zogen wir weiter. Über Belgien, Niederlande und Frankreich bis nach Großbritannien. Dort sprachen wir mit den unterschiedlichsten Menschen über den Brexit und sammelten unvergessliche Erinnerungen. Eine dieser Begegnungen hatten wir in den schottischen Highlands. Dort sprach Felix die Rentnerin Bridget über ihren Gartenzaun hinweg an. Schnell schob sie ihre Bedenken, drei Fremde in ihr Haus zu lassen, beiseite und lud uns ein. Wir tranken gemeinsam Kaffee, kosteten ihre selbstgebackenen Kekse und sprachen über unser Reiseprojekt. Am Ende setzte sich Bridget sogar vor die Kamera, um ihre Gedanken zur EU und dem Brexit mit uns zu teilen.
Trotz der schönen Zeit auf den nordischen Inseln zogen wir bald weiter – die Kälte kam und wir machten uns auf den Weg in Richtung Süden. Den Dezember verbrachten wir bei 20 Grad am Strand in Portugal.
In einem großen Kreis durchquerten wir bisher 21 der 28 Länder der EU. Dabei lernten wir viel: Europa ist landschaftlich sehr vielseitig, im südlichsten Zipfel Bulgariens ist es selbst im Winter recht warm, Ungarn hat keinerlei Berge und in einigen Ländern, wie beispielsweise in der Slowakei, kann man heiße Quellen finden. Unsere Reise begleiten wir mit einer Drohne, die die schöne Natur der bereisten Länder digital festhält.
Doch wir lernten weit mehr kennen, als die atemberaubende Natur unseres Kontinents. In jedem der bereisten Länder kamen wir mit verschiedenen Einheimischen in Kontakt. Schnell gingen die Gespräche über Smalltalk hinaus, wir sprachen über die EU: Enttäuschungen, Chancen und Wünsche.
Bei Ilia aus Bulgarien und seiner jungen Familie lebten wir eine Woche. Die Zeit dort war sehr bereichernd. Wir lernten viel über das Leben in einem Selbstversorgerdorf, Agrarsubventionen der EU und über Ilias Zukunftswünsche: Eine Erweiterung der EU über die europäischen Grenzen hinaus, also eine weltweite Zusammenarbeit.
Nun sind wir dabei, die fast 60 interessanten Gespräche zusammen mit den Drohnenaufnahmen in eine schöne Form zu bringen. Wir können mit unserer entstehenden Dokumentation zwar kein Stimmungsbild der EU zeichnen, aber wir füllen das abstrakte Thema „Europäische Union“ mit Leben und Menschlichkeit, mit Forderungen und Ideen.B
Die letzten Länder der EU stehen für die nächsten Wochen auf dem Plan: Über das Baltikum wollen wir nun nach Skandinavien und von dort zurück nach Hamburg. Mitte Mai werden wir wieder in Deutschland ankommen und kurz davor den Trailer für die im September ausgestrahlte Doku veröffentlichen.
Erlebnisse von unserer Reise dokumentieren wir regelmäßig auf unserer Website driving-europe.de, unserem Instagram-Account driving_europe und bei Twitter unter DrivingEurope. Auf der Website hast du auch die Möglichkeit, alle Menschen, die wir bisher für die Doku interviewt haben, mit einem Portraitbild kennenzulernen.