… diesmal beim Social Community Day 2018 zum Thema „Neue Heimat Internet“.
Eine kurze Vorrede: Ein ausführlicher Bericht zum diesjährigen SCD ist hier zu finden. Und die Kolleginnen vom Grimme Online Award haben den Tag in einem lesenswerten Artikel im Blog „quergewebt“ zusammengefasst. Wir schreiben an dieser Stelle über die Diskussionsbeiträge, die in besonderem Maße Inhalte behandeln, über die wir im einen oder anderen Dossier des Grimme Lab berichtet haben.
Worüber sich beim Social Community Day 2018 eigentlich alle einig waren: Heimat ist und bleibt ein schwieriger Begriff. Hätte jemand eine Definition oder Auslegung erwartet, also die eine Begriffserklärung, was Heimat jetzt und für immer bedeuten soll – er wäre enttäuscht nach Hause gegangen. Solchen Erwartungen hat sich aber ohnehin wohl keiner hingegeben; bereits im Vorfeld hatte das Team Stimmen zur Heimat gesammelt und veröffentlicht, die die Vielfalt in der Auseinandersetzung mit diesem Wort und allem, was damit verwoben wird, zum Ausdruck brachten.
Der Moderator des diesjährigen SCD, Daniel Fiene, fragte in seiner Einführung mithilfe des Online-Tools Mentimeter ab, was die Besucher(innen) mit Heimat in Verbindung setzen.
Einige der Antworten:
Europa. Ein Gefühl. Familie als Netzwerk. Ein Ort, an dem an jeder Ecke Erinnerungen lauern. Heimat ist, wo man seit Generationen lebt. Heimat ist da, wo man Freunde hat. Heimat ist, wo sich das Smartphone automatisch ins WLAN einloggt. Heimat verbindet. Da wo man herkommt. Das andere ist „Zuhause“. Das Internet ist Heimat – und der Beweis, dass Ausgrenzung und Nationalismus eine Idee der Vergangenheit. Der Ort, an den man nach einer Reise zurückkehrt und seine Jacke aufhängt. Kleingeistigkeit in der Begriffswahl für ein an sich gutes Gefühl. … ist überbewertet. Heimat ist der Ort, an dem ich mich Zuhause fühle. Heimat ist individuell definierbar und nicht auf eine einzige geographische Lage beschränkt. Heimat macht die Menschen aus, nicht die Nationalität. Der nostalgische Bruder von Zuhause. Nicht zu definieren. Erst wenn man weit weg ist, merkt man, wie wichtig sie ist. Heimat ist dort, wo man geliebt wird.
Diese erste Sammlung wurde durch die Referent(inn)en der beiden Panels bestätigt und erweitert.
Der Auslandskorrespondent Thomas Franke sagte, er komme aus einer Generation, die nachkriegsbedingt mit „Heimat“ wirkliche Schwierigkeiten hatte. „Ich habe mich mit mir selbst darauf verständigt, das Ganze Zuhause zu nennen und den Heimatbegriff durchaus auch ablehnen zu können.“ Man könne mehr über seine Heimat erfahren, wenn man sie verlässt. „Ich selbst finde Orte, wo ich ein Wohlfühlgefühl habe. Ich hatte es mal, als ich ein halbes Jahr in Russland unterwegs war, und nach London geflogen bin, wo ich noch nie vorher war, dass ich mich dort zu Hause gefühlt habe. Weil es viel europäischer war.“
Thomas Franke ist Mitglied des Weltreporter-Netzwerks und verwies darauf, dass die Weltreporter aktuell ein Buch mit dem Titel „Ausgeschlossen – eine Weltreise entlang Mauern, Zäunen, Abgründen“ herausgegeben haben. In diesem geht es unter anderem darum, dass nach 1989 Mauern gefallen seien und seitdem eine Vielzahl von Mauern und Grenzen wieder errichtet wurde – früher mit dem Ziel, Menschen einzuschließen, heute mit dem, sie auszuschließen. Er betonte, dass niemand sein Heimatland freiwillig verlasse, die meisten Menschen, mit denen er gesprochen habe, wollten dorthin wieder zurück, wenn sie die Möglichkeit hätten.
Ein Interview mit der Vorsitzenden der Weltreporter, Bettina Rühl, haben wir vor ein paar Monaten veröffentlicht. In diesem spricht sie unter anderem darüber, dass die Auslandskorrespondenten der Weltreporter nicht nur anlassbezogen in das jeweilige Land fliegen, aus dem sie berichten: „Jeder von uns ist seit Jahren an seinem Standort zu Hause und bestens vernetzt. Das hilft uns, die Geschichten zu entdecken, die hinter den Nachrichten stehen.“ Zur Publikation „Ausgeschlossen“ sagt sie: „Diesmal geht es um Mauern weltweit. Um Mauern, die Länder trennen. Aber auch um Mauern, die andere Grenzen ziehen: die beispielsweise Reiche von Armen trennen, oder Gewinner von Verlierern. Abschottung ist ja gerade weltweit en vogue, laut der Universität Québec gab es 2015 auf dem Globus schon 65 Grenzzäune und -mauern.“
In eine recht kleine Heimat hat sich die freie Journalistin Lisa McMinn begeben. Im Rahmen des Abschlussprojekts „Ein deutsches Dorf“ ist sie mit weiteren 15 Schülerinnen und Schülern der Henri-Nannen-Journalistenschule für zwei Wochen nach Werpeloh im Emsland gezogen. Das Team hatte sich bewusst für einen Ort entschieden, in dem „alles in Ordnung“ ist. Ihr Ziel: eine „Nahaufnahme der deutschen Provinz, von einem ganz normalen Dorf, nicht verarmt und abgehängt, aber auch kein Idyll im Speckgürtel einer Metropole“, so die Beschreibung auf der entstandenen Multimedia-Website. Werpeloh hat weniger als 2.000 Einwohner. Lisa McMinn hat mit den Jugendlichen im Dorf gesprochen. Und diese wollen nicht weg. „Im Dorf fühlten sich alle Menschen sehr wohl, das war für uns erstmal befremdlich. Dann haben wir versucht, diese Sehnsucht gegenseitig nachzuvollziehen, die konnten nicht verstehen, warum wir in die Großstadt wollten, wir konnten nicht verstehen, warum die Party im Schweinestall machen wollten.“ Sie hat einen jungen Mann getroffen, der ein Segelboot auf den Arm tätowiert hatte. Auf Nachfrage sagte er, dass dieses Bild für ihn Freiheit symbolisiere. Als sie ihm ihr Tattoo zeigte, einen Apfelbaum, der sie an Heimat erinnere, habe er gesagt: „Immer das, was man nicht hat.“ Heimat bedeute für die Jugendlichen im Dorf, so Lisa McMinn, „vor allem Struktur; in der Landjugend zu sein, im Verein zu sein, die gesellschaftliche Sicherheit zu haben, das war für die Heimat“. Diese Haltung führte auch zu Diskussionen in der Reportergruppe. „Wir sind alle in der Nannenschule zwischen 20 und 30 Jahre alt gewesen. Wo gehöre ich hin, wer bin ich eigentlich, sind Fragen, die einen in dieser Zeit beschäftigen.“ Das Heimatgefühl der Jugendlichen habe – so ihr Eindruck – nichts Politisches, vor allem nichts Rechtspolitisches gehabt. Auch der vorherrschende (katholische) Glaube hätte keine große Rolle dabei gespielt, wobei Organisationen wie etwa die Landjugend katholisch gewesen seien. Es habe keine grundsätzlichen Versuche der Ausgrenzung anderer gegeben. „Es gibt auch in Werpeloh geflüchtete Menschen, da sind ganz liebevolle Geschichten entstanden. Auf der anderen Seite gibt es aber auch ein Haus in dem Dorf mit Gastarbeitern, die in einer Fleischfabrik arbeiten. Da findet die Befremdung von beiden Seiten statt. Man hat nie versucht, sie einzuladen, sie sind aber auch nicht von sich aus gekommen.“
Frank Joung ist ein Journalist aus Berlin, der mit dem von ihm realisierten Halbe Katoffl Podcast zu den diesjährigen Nominierten des Grimme Online Award zählte. Der Podcast sammelt Geschichten von Deutschen mit nicht-deutschen Wurzeln, die hier über ihr Leben als „halbe Katoffl“ sprechen. Frank Joung hat seinerseits Probleme mit dem Begriff Heimat. „Heimat ist ein vertrauter Ort voll positiver Erinnerung und ein Ort an dem man wächst“, sagte er. Aber andererseits sei damit das „schlimmste Gefühl“ verbunden. Wenn nämlich „halbe Kartoffeln [denken], dass sie hier zu Hause sind, dass sie Deutsche sind. Und dann kommen andere, die sagen, dass du hier nicht zu Hause bist, dass du dich integrieren musst. Das schmerzt“. Er fuhr fort: „Wenn wir von Heimat reden, ist es einmal Zuhause und einmal die Erinnerung an früher. Die Leute, mit denen ich rede, haben oft nicht den einen Ort, den sie als Heimat betrachten.“ Sein Motiv, den Halben Katoffl Podcast ins Leben zu rufen, entwickelte sich aus seiner beruflichen Erfahrung: „Ich bin selber Journalist und habe gemerkt, dass die Vielfalt der Geschichten gering ist. Ich wollte den stereotypen Geschichten etwas entgegensetzen.“ Und davon profitieren nicht nur die „halbn Katoffln“ selbst, die ihre persönlichen Geschichten teilen. „Ein Leser hat mir mal geschrieben: Du hast mir eine neue Welt eröffnet, ich hatte keine Ahnung von der Lebenswelt der halben Kartoffln.“ Frank Joung erzählte, dass er gedacht hätte, es sei bei allen in etwa so wie bei ihm. Sein Kopf sei deutsch, sein Herz koreanisch. „Ich habe koreanische Elltern, bin aber hier geboren und aufgewachsen. Ich habe immer das Gefühl zwischen den Stühlen zu stehen.“ Das Gute am Internet sei, dass es da keine Grenzen gebe und dass es Nischen zulasse. Jeder könne sich da wiederfinden. „Ich merke das an meinem Projekt, dass es viele Halbe Kartoffeln gibt, die sich dadurch nicht mehr so alleine fühlen, weil sie in ihrem direkten Umfeld keine haben.“ Er stellte klar, dass er kein „Migrantenprojekt“ habe machen wollen. „Deshalb habe ich auch den Kartoffel-Begriff verwendet, also das Deutsche betont.“
Teil dieses Panels waren darüber hinaus Lisa Altmeier und Steffi Fetz, die Gründerinnen des Projekts „Crowdspondent“. Sie sammeln einmal pro Jahr via Crowdfunding Geld und lassen sich von ihren „Geldgebern“ in verschiedene Länder schicken, aus denen sie berichten. Bereits zustande gekommen sind auf diese Weise Reportagen aus Griechenland, Brasilien und Japan. Auch in Deutschland waren sie bereits unterwegs und haben aus ihren Erfahrungen das Buch „Nix wie Heimat!“ gemacht. Sie sagten, dass Heimat einem dann deutlicher wird, wenn man sich in einem Land befindet, dessen soziale Regeln man wenig kennt – wie etwa in Japan.
Auch der Journalist Özgür Uludağ sprach auf der Bühne über seine Gedanken in diesem Kontext. Er sagte, dass Heimat „ein überstrapazierter Begriff [sei], es steckt alles drin und auch nichts“. Wenn er sagen müsste, was für ihn Heimat sei, würde er sagen: „Bei uns in der Türkei in Anatolien das Dorf. Ich bin da zwar nie, aber das ist Heimat“. Özgür Uludağ hat das Multimedia-Projekt „Eine Kirche wird zur Moschee“ gemacht und den Prozess der Umwandlung einer ehemaligen Kirche in einem Hamburger Stadtteil dokumentiert. Er berichtete über die Unterstützung, die das Vorhaben erfahren hatte, und verwies darauf, dass kritische Stimmen eher von außen und nicht aus dem Stadtteil selbst kamen: „Ich bin in dem Stadtteil aufgewachsen, bin dort zur Schule gegangen.“ Und zur Stimmung während der Umwandlung: „Ist ein Arbeiterviertel, da wohnten schon immer viele Araber und Türken, die Senioren kennen eben die Familie Yilmaz von nebenan, die machen keinen Terroranschlag, das wissen die. Es sind oft die Leute, die mit Muslimen Probleme haben, die gar keine kennen.“ Er sagte zu seinen eigenen Erfahrungen: „Ich habe durchaus versucht, mich zu integrieren, aber die Mehrheitsgesellschaft integriert mich nicht. Ich kann in Deutschland mit einem Deutschlandhütchen, einer Fahne und einem Bier ein Deutschlandspiel sehen, und die Deutschen werden immer noch sagen, dass ich ein Türke bin. Ich kann mich nicht mehr integrieren als mich die Mehrheitsgesellschaft integriert.“ Und er schließt mit den Worten: „Wenn keiner mehr von Integration redet, haben wir es geschafft.“
Beim zweiten Panel, „Heimatleben im Netz“, griff Male Stüssel das Problem der dauernden Forderung nach Integration indirekt auf, als sie sagte: „Wir benutzen diesen Begriff Heimat so gut wie gar nicht auf der Seite, ich weiß auch nicht, ob wir es schaffen, eine Heimat zu geben, aber wir schaffen es, die Heimat zu erklären. Es hat sich von Anfang an ein Vertrauen in der Community aufgebaut. Wenn unsere Moderatoren etwas erklären, haben die Nutzer ein größeres Vertrauen, als wenn Frau Müller auf dem Amt das erklärt.“
Über WDRforyou haben wir bereits in unserem Dossier „Flüchtlingshilfe: medial vernetzt & online sichtbar“, im Kapitel „Informationen und Nachrichten für Flüchtlinge“, berichtet.
Male Stüssel arbeitet für das Projekt WDRforyou, das Geflüchteten – hauptsächlich über Facebook – Fragen beantwortet, Sachverhältnisse erläutert, Dinge erklärt, die anders und fremd erscheinen oder auch mal mit Gerüchten aufräumt.
Lukas Bothur und sein Mitstreiter sind Teil der Bürgerrechtsbewegung Reconquista Internet, die mittlerweile mehr als 60.000 Anhänger hat. Die beiden Reconquista-Vertreter haben festgestellt, „dass sich [im Netz] der Ton verändert, auch die Grenze des Sagbaren verschiebt sich. Das ist ein Problem, weil es sich auch in der Wirklichkeit durchschlägt“.
Hass und Hetze sind bedauerlicherweise keine neuen Phänomene im Netz. Bereits in unserem ersten Dossier zur Flüchtlingshilfe haben wir über Maßnahmen und Initiativen gegen Hass geschrieben, und auch einer unserer (Kon-)Texte drehte sich um dieses Thema.
Sie befürchten, dass man, wenn man sich im Netz radikalisiert, diese Radikalisierung in der Wirklichkeit auch auslebt. Ihr Prinzip ist, bei Hasskommentaren oder gezielten Falschkommentaren etwas dagegen zu setzen. „Wir sind nicht gegen etwas. Wir sind für Liebe und Vernunft und für einen besseren Diskurs.“
Außerdem Teil dieses Panels waren Clare Devlin von den „Mädelsabenden“, der Journalist Dirk von Gehlen, der einen Heimatverein für das Internet gründen will, sowie Lukas Kuhlendahl von den Weltenwebern. Sie sprachen über ihre positiven Erfahrungen mit ihrer Community, über das Bestreben, das Internet als Ort für die Vielen auszubauen und zu schützen, und darüber, wie Virtual Reality Heimat bzw. die Erinnerung daran zumindest simulieren kann. Da dies höchst spannend war, aber nicht unmittelbar in den Kontext der aktuellen Themen des Grimme Lab passt, möchten wir die interessierten Leserinnen und Leser nochmals auf den Bericht bei „quergewebt“ verweisen.
Und zum Schluss noch die Mentimeter-Umfrageergebnisse nach dem zweiten Panel:
Nicht definierbar. Tbd. Anstrengend. Ein individueller Begriff. Wandelbar. Kultur. Apfelbaum. hier! Kein Ort. Heimat sind meine Freunde. Heimat ist ein Wohlstands-Wohlfühl-Programm, für ängstliche Gemüter, die sich noch mit dem Unlearning schwer tun. Abschaffbar. Heimat ist nichts Starres: Im Gegenteil, Heimat ist flexibel und dank des Internets wohl auch mobil :-). Wo man sich zu Hause fühlt. Das individuelle und positiv besetzte persönliche Umfeld. …wo das Herz aufgeht. Privatheit. vielschichtig. persönlich. politisch. und deshalb: wichtig für Menschen. Schwierig. Zwischen Gefühl und was eigentlich? Ein positives Gefühl, das nichts mit Grenzen und Ausgrenzung zu tun hat. Jeder hat für sich seine eigene persönliche Heimat. Eigentlich Gemeinschaft. Darüber würde ich lieber sprechen. Und darüber, wie wir diese gestalten wollen. Ein Ort, wo alle frei sein können, egal woher sie kommen. Wo man Frieden findet und leben kann.
Es bleibt also vielfältig.