Der Beitrag Irlands zum Eurovision Song Contest 2018, die Zeichentrickfigur Peppa Pig und WhatsApp haben eines gemeinsam: Sie wurden kürzlich alle aus der Medienlandschaft in China gestrichen. Während des Auftritts des Iren Ryan O‘ Shaughnessy tanzten zwei Männer auf der Bühne miteinander. Die Darstellung von Homosexualität steht aber seit 2017 in China unter Strafe, deshalb wurde der Beitrag kurzerhand vom Streamingdienst MangoTV aus der Übertragung des ersten Halbfinales geschnitten; ebenso wurde eine Regenbogenflagge im Publikum verpixelt.
Peppa Pig, das pinke Schweinemädchen, das seit 2004 Kinder auf der ganzen Welt unterhält, wurde im März 2017 zuerst aus den Regalen chinesischer Buchhandlungen entfernt, um den Einfluss westlicher Kultur und Ideologie zu limitieren. Im Frühjahr 2018 verschwanden dann 30.000 Videos mit Peppa Pig von der chinesischen Online-Video-Plattform Douyin, weil sie ein subversives Symbol sei. Tatsächlich wurde Peppa Pig zum Symbol einer jugendlichen „Punk“-Bewegung in China, die sich mit (temporären) Peppa-Tattoos und -Merchandise über ihren eigenen niedrigen sozialen Status lustig macht. Im September 2017, kurz vor dem Beginn des 19. Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas, wurde die Nutzung des Messenger-Dienstes WhatsApp in China erheblich erschwert.
Diese Beispiele illustrieren kulturelle, mediale und politische Entwicklungen im China unter Xi Jinping, der seit 2013 Staatspräsident der Volksrepublik China ist und sich im März 2018 die Aufhebung der Obergrenze für die präsidiale Amtszeit absegnen ließ.
Die Medienkultur eines Landes mit einer Bevölkerung von über einer Milliarde Menschen, die dazu noch in völlig unterschiedlichen Umständen und kulturellen Regionen leben, in einem Online-Artikel zusammenfassen zu wollen, ist ein Ding der Unmöglichkeit; besonders wenn dies aus westlicher Sprach- und Kulturperspektive geschehen muss. Dennoch wollen wir einige der jüngsten Entwicklungen in der chinesischen Medienlandschaft hier vorstellen.
Medial vernetztes Leben
Spiegel Online stellt die Trend-Apps aus China vor.
Wie das Beispiel WhatsApp zeigt, sind US-amerikanische Internetanbieter zu großen Teilen aus dem in China zugänglichen Internet ausgesperrt. Stattdessen soll die Bevölkerung die chinesischen Äquivalente der US-amerikanischen Social-Media- und Online-Dienste nutzen: WeChat statt WhatsApp, Alipay statt ApplePay, QQ statt ICQ, Youku Tudou statt YouTube, Weibo statt Twitter, Taobao statt Amazon und Baidu statt Google.
Diese Dienste sind aber nicht einfach ein Abklatsch der US-Konkurrenz, sondern unterscheiden sich in Funktionen und der Art und Weise, wie sie in China genutzt werden, teils deutlich von ihren westlichen Vorbildern. Bei WeChat können Nutzer(innen) nicht nur Nachrichten, Bilder und Videos verschicken, sondern auch mobile Spiele mit ihren Kontakten spielen oder ihre Rechnungen bezahlen. Für den westlichen Nutzer mag es seltsam erscheinen, berichtet das Forbes Magazine, aber eine beliebte Funktion von WeChat ist der Chat mit zufällig ausgewählten fremden Kontakten. Einfach das Handy schütteln und man wird an einen Chat-Partner vermittelt. Das sei eine praktische Funktion für junge Chines(inn)en, die gerade ihre ländliche Heimat verlassen haben und neue Freunde in Mega-Citys wie Shanghai oder Shenzhen suchen, erklärt Rahil Baghat auf Forbes. Baidu hat seinen sprachgesteuerten Assistenten auf die Wohnbedingungen in China angepasst. Qi Lu, Baidus leitender Geschäftsführer, erklärt dazu, Amazon Echo oder Microsofts Cortana seien für die geräumigen Wohungen in Nordamerika ausgerichtet. Baidus Sprachassistent DuerOS sei aber für kleine Räume und deren Geräuschmuster optimiert. Dadurch sieht Qi Lu für sein Produkt mehr Potenzial auf dem globalen Markt, besonders in Ländern wie Japan oder Indien, in denen ähnliche Wohnverhältnisse vorherrschen. Dieses Beispiel zeigt, die chinesischen Firmen konzentrieren sich nicht mehr nur auf ihren Heimatmarkt. Mit der Karaoke- und Streaming-App Musical.ly hat es bereits eine chinesische App in die Zimmer und Herzen westlicher Teenager geschafft.
Eine Studie der Unternehmensberatung Deloitte, die die Mediennutzung in China und den USA 2015 verglich, fasst zusammen: Chinesische Mediennutzer seien mobiler, digitaler, „more social“ und den Nutzern in den USA grundsätzlich einen Schritt voraus, was zu einer einzigartigen Form der Mediennutzung im Land führe. Digital mit dem Handy zu bezahlen, ist in den chinesischen Städten Standard. Die Phase der Kartenzahlung sei einfach übersprungen worden, erklärt der freie Journalist Ming Shi für ZEIT Online. Social Media sind fester Bestandteil der Alltagskommunikation. Manche Städter träfen ihre Freunde nur noch online und zögen sich ansonsten soweit wie möglich zu Hause zurück, berichtet Ming Shi.
Mehr über die Kultur und Wirtschaft Chinas im China-Spezial von ZEIT Online.
Allerdings darf nicht vergessen werden, wie heterogen die Lebensbedingungen in China sind – einem Land das sich über mehr als 9,5 Millionen Quadratkilometer erstreckt. Zum Vergleich: Die 28 EU-Staaten decken weniger als die Hälfte dieser Fläche ab. Auch wenn sich seit den Wirtschaftsreformen in den 1970ern viele Chinesen vom Land in die Städte bewegt haben und Metropolen wie Shenzhen an der Grenze zu Hongkong rapide wachsen, lebt derzeit gerade einmal etwas mehr als die Hälfte der Chines(inn)en in urbaner Umgebung.
Aus der Kombination der kompletten sozialen Vernetzung in der digitalen Welt und dem Rückzug ins Private sind in China interessante Formen der Online-Gemeinschaft und -Freundschaft entstanden. Die sogenannten „Chat Girls“, junge Städterinnen, die Social Media als ihre Bühne nutzen, streamen beinahe den ganzen Tag ihr Leben bzw. eine Performance davon ins Internet. Sie erzählen, singen und tanzen für ihre oft männlichen Zuschauer. Dafür werden sie mit virtuellen Geschenken belohnt. Die BBC porträtiert zum Beispiel die 24-jährige Lele Tao, die mit 18 Jahren anfing zu streamen. Mittlerweile verdient sie damit etwa 37.000 US-Dollar pro Monat. Dafür ist sie täglich bis zu 10 Stunden live und trainiert in der restlichen Zeit, um ein noch professionelleres Chat Girl zu werden – wofür auch ihr Manager sorgt, der sich die Hälfte ihres Gewinns sichert. Um Sex geht es dabei aber nicht – pornografische Inhalte wären in China sowieso schnell aus dem Internet zensiert.
Sha Ge, ein treuer Fan von Lele, der über die Jahre bereits 15.000 US-Dollar für virtuelle Geschenke an seinen Star ausgegeben hat, erzählt, sie sei wie ein Familienmitglied für ihn. Computerspiele und später die Live-Streams waren für ihn eine Möglichkeit, sich weniger allein zu fühlen, als seine Eltern in einer fremden Stadt arbeiteten, erzählt er in der BBC-Dokumentation. Nach Jahrzehnten der drakonisch durchgesetzten Ein-Kind-Politik, die erst ab 2013 gelockert und 2015 offiziell abgeschafft wurde, stehen Erfahrungen wie die von Sha Ge für eine ganze Generation, die unter anderem ohne Geschwister groß geworden ist.
Überwachung
Unliebsame Internetdienste aus dem Ausland zu sperren oder so weit zu verlangsamen, dass es für die Nutzer(innen) unbequem wird, sie zu benutzen, ist gängige Praxis in China. Im Gegensatz zur ausländischen Konkurrenz ermöglichen die chinesischen Plattformen die umfassende Überwachung der Online-Aktivitäten der Bürger(innen). Seit Oktober 2017 gilt Klarnamenpflicht für Online-Kommentare. Außerdem sind die Anbieter verpflichtet, Kommentare zu sichten und zu löschen, die als illegal eingestuft werden. Vor diesem Hintergrund sind auch MangoTV’s ESC-Zensur sowie die Verbannung von Peppa Pig zu verstehen. Aber die Überwachung der Internetnutzer geht noch weiter. Wie Netzpolitik.org berichtet, sollen die Plattformen ihre User auch bewerten und diejenigen aussperren, die negativ auffallen.
Dass Chinas Bürger(innen) für ihr Verhalten im Internet bewertet werden, ist Teil eines seit 2014 geplanten Social-Scoring-Programms, das bis 2020 umfassend umgesetzt sein soll. Im Sinne der Kommunistischen Partei positives Verhalten soll belohnt, negatives betraft werden. Im Regierungsplan zum Social-Credit-Programm heißt es unter anderem, das System sei ein wichtiger Bestandteil der Entwicklung der sozialistischen Marktwirtschaft des Landes. Es habe erhebliche Bedeutung dafür, das „Bewusstsein für Ehrlichkeit“ unter den Bürgern der Gesellschaft zu stärken. Ziel sei es damit, die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu stärken und die Entwicklung des Landes sowie „den Fortschritt der Zivilisation“ voranzutreiben.
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Zur Umsetzung des Social-Scoring-Systems setzt der chinesische Staat auf Innovationen der führenden Technikunternehmen des Landes, wie Alibaba, dem z.B. der Online-Handel Taobao gehört, und Tencent, das u.a. WeChat betreibt. Durch ihre landesweit verwendeten und beliebten Apps haben die Unternehmen bereits Zugriff auf eine Menge persönlicher Daten über Konsum-, Kommunikations- und Freizeitverhalten sowie Bewegungsmuster.
Alibaba’s Sesame Credit zum Beispiel kombiniert Daten aus Bezahl-, Taxi- und Dating-Apps des Anbieters. Die Informationen werden zu einem Score zwischen 350 und 950 Punkten kombiniert. Ab 750 Punkten winkt ein schnelleres Visum nach Europa; wer aber einen niedrigen Score hat, dem wird das Internet gedrosselt. Wer seinen Kredit nicht zurückbezahlt, kann keine Reisen innerhalb des Landes mehr buchen. Wie Rachel Botsman bei Wired berichtet, hat auch das Verhalten des Umfelds der Einzelperson Auswirkung auf den Sesame Credit Score. Sie bezeichnet das System als gamifizierte Big Data Version des kommunistischen Überwachungsprogramms. Noch ist die Teilnahme am System freiwillig; ab 2020 wird sie verpflichtend.
Berichterstattung über China im Ausland
„Die öffentliche Meinung zu verbessern“, sei das Ziel von „Voice of China“, heißt es in der Ankündigung der Fusion des chinesischen Staatsfernsehsenders CCTV und zweier Radiostationen, die Chinas staatliche Nachrichtenagentur Xinhua nur wenige Tage nach Xi Jinpings Wiederwahl vermeldete. Für den neuen Sender werden 14.000 Mitarbeiter(innen) tätig sein. Internationaler Rundfunk, der das Bild Chinas im Ausland beeinflussen soll, wird integraler Bestandteil von „Voice of China“. Bisher senden das China Global Television Network (CGTN) und CCTV+ unter anderem auf Englisch, Russisch und Französisch ins Ausland.
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Für Medien aus dem Westen ist es innerhalb Chinas nicht immer einfach, unabhängige Informationen zu erhalten. Tom Phillips, der scheidende China-Korrespondent des britischen Guardian, berichtet zum Beispiel, dass sein Blatt sowie die BBC und die New York Times von der Antrittsrede Xi Jinpings nach seiner Wiederwahl im Herbst 2017 ausgeschlossen waren. Bei seinen eigenen Recherchen im Land wurde Phillips wiederholt überwacht und an Berichten gehindert.
„In reality, many correspondents face increasing enmity and intimidation, although conditions remain far freer than during the darkest periods of contemporary Chinese history when even speaking to locals was impossible.“ (Tom Phillips, China Korrespondent, The Guardian)
Diese Erfahrung deckt sich mit dem Bericht des Foreign Correspondent Club in China, der einen Anstieg der Einschüchterungen und Behinderungen der Arbeit ausländischer Journalisten im Land dokumentiert. Die Situation chinesischer Journalisten im Land ist aber bedeutend prekärer: Das Land nimmt im Pressefreiheitsranking von Reporter ohne Grenzen Platz 176 von 180 ein.
Fazit
China ist ein riesiger Medienmarkt, der hinter den Mauern seiner Internetzensur eine Medienkultur entwickelt hat, die einerseits Ausdruck dieser Zensur ist, aber auch immer wieder Wege der Subversion eröffnet. Die Vorstellung, China kopiere nur das, was aus dem Westen kommt, trifft nicht mehr zu, denn chinesische Internetfirmen haben mittlerweile auch den westlichen Markt im Blick. Die Möglichkeiten der medialen Überwachung und der Propaganda, die derzeit in China massiv ausgebaut werden, erscheinen aus westlich-demokratischem Blick wie Dystopien, sie sind aber real. Sie erlauben einen mahnenden Blick in eine Medienzukunft, in der im Schulterschluss zwischen Regierungen und privaten Unternehmen die Freiheit der Menschen massiv beschränkt wird.
Dieser Beitrag ist Teil unseres Jahresthemas ’18 „Globales Leben“. |