Dieser Text gehört zum Jahresthema „Demokratie“. Die Idee zur Auseinandersetzung mit einem spezifischen Phänomen des US-amerikanischen Radios und seinen Auswirkungen auf die Demokratie entstand nach einem Gespräch mit amerikanischen Freunden, die nach der letzten US-Präsidentschaftswahl darauf hinwiesen, dass die Medienberichterstattung in den Vereinigten Staaten mit europäischen Verhältnissen nicht zu vergleichen sei. Da es dort kein Äquivalent etwa zu unserem öffentlich-rechtlichen Fernsehen und Rundfunk gebe, Kabelfernsehen aber recht teuer sei, seien große Gruppen immer noch angewiesen auf lokale und regionale Berichterstattung, die große qualitative Unterschiede aufweise.
Radio-Talkshows haben in den Vereinigten Staaten enorme Zuhörerzahlen. Allein die Sendungen des sehr umstrittenen Moderators Rush Limbaugh, der in seinen Shows das Gegenteil von ausgewogener Berichterstattung zelebriert, werden von 14 bis 20 Millionen Menschen pro Woche gehört. Wenn solche Sendungen zu den Haupt-Informations- und Unterhaltungsquellen von großen Gruppen der Bevölkerung zählen: Was passiert dann in der Wahrnehmung von Gesellschaft?
Dieser Text beleuchtet die Entstehung von „Talk radio“. In den folgenden Teilen wird es um Inhalte, Einfluss und Konsequenzen gehen.
Filterblasen …
Was passiert also in der Wahrnehmung von Gesellschaft, wenn wenige Quellen genutzt werden?
TED-Talk von Eli Pariser (Februar 2011)
Der Begriff „Filterblase“ (oder Informationsblase) wird dem amerikanischen Internetaktivisten Eli Pariser zugeschrieben, der im Jahr 2011 in seinem gleichnamigen Buch „The Filter Bubble: What the Internet Is Hiding from You“ beschrieb, welchen Einfluss Algorithmen auf die Informationen haben, die Nutzer auf Websites oder in sozialen Netzwerken erhalten. Ihr Standort, ihr bisheriges Such- oder ihr Kaufverhalten beeinflussen die Suchergebnisse oder die Meldungen, die ihnen geliefert werden. So kann die Bandbreite der Informationen, die sie erhalten, auf Dauer verengt und nicht durch „abweichendes“ Wissen beeinflusst oder erweitert werden.
Diese mediale Isolation wird als (Teil-)Grund dafür gesehen, warum große Gruppen so überrascht oder gar schockiert auf die Ergebnisse der US-Präsidentschaftswahl reagiert haben. Gerade Anhänger der Demokraten bewegten sich, so der Eindruck, oft in einem medialen Umfeld, in dem Trumps Aussichten als absurd betrachtet wurden – bzw. in dem Pro-Trump-Meldungen gar nicht erst auftauchten.
Mittlerweile wird neben den Algorithmen auch die Personengruppe, mit der man sich in den sozialen Medien umgibt, als mitverantwortlich für die Entstehung einer Filterblase identifiziert. Wenn man sich, etwa auf Facebook, nur noch im Umfeld von Menschen bewegt, die der eigenen Meinung sympathisierend gegenüberstehen, kann der Eindruck entstehen, man sei Teil der Mehrheitsmeinung – denn auch die Nachrichten, die dann in der persönlichen Timeline sichtbar werden, entsprechen nach einer Weile nur noch dem, wovon der Algorithmus „denkt“, dass es den jeweiligen Nutzer interessiert.
…Echokammern…
Die sogenannte „Echokammer“ kommt dann ins Spiel, wenn man sich in Netzwerken und auf Plattformen bewegt, die die eigene Haltung nur noch zurückwerfen – also ein Echo der eigenen Meinung erzeugen.
Mehr zu diesem Phänomen ist nachzulesen in einer Präsentation der AJS – Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Landesstelle NRW.
Gerade für das extremere rechte Milieu gibt es Hinweise darauf, dass eine solche „Echokammer“ zu lauter werdenden Äußerungen etwa fremdenfeindlicher Grundhaltungen führen kann: Durch die Häufung von Hassreden in so einem Umfeld kann der Eindruck entstehen, dass wesentlich mehr Menschen die eigene Ablehnung teilen, als dies tatsächlich der Fall ist.
…und ihre Folgen
Sollte man sich darauf einigen können, dass zu einer lebendigen Demokratie zwangsläufig auch das Mit-, zumindest aber das Nebeneinander von Meinungen und Grundhaltungen gehören sollte, wird die Gefahr, die von solchen Filterblasen ausgeht, recht schnell deutlich. Nicht nur will man nichts mit „den anderen“ zu tun haben; gegebenenfalls weiß man nicht einmal mehr, dass es sie gibt.
Mehr zum Thema im Artikel „Mediale Meinungsbildung“
Die Meinungsvielfalt kann also verengt werden, wenn Algorithmen und / oder ein Personenkreis der „immer Gleichen“ in sozialen Netzwerken dazu beitragen, dass sich jeweils bereits vorherrschende Meinungen verstärken, ohne dass neues, zusätzliches Wissen, Fakten, Meinungen oder Erfahrungen hinzukommen und integriert werden können.
Ein ähnlicher Effekt allerdings ist auch ohne digitale Medien zu beobachten, schlicht wenn große Gruppen in der Gesellschaft zu wenige Medien und Quellen nutzen. Filterblasen in ihrer Bedeutung als Räume, zu denen „störende“ Informationen keinen Zutritt haben, existieren a) schon sehr lange und b) auch abseits von Online-Kommunikation.
Eine solche „Offline“-Filterblase bildet das konservative US-amerikanische Talkradio – ein Phänomen mit großem Einfluss auf die amerikanische Öffentlichkeit, welches in Europa kaum bekannt ist. Der sprunghafte Anstieg von Talk radio-Sendungen ist unter anderem zurückzuführen auf die Abschaffung der sogenannten Fairness-Doktrin, die bis 1987 eine ausgewogene Berichterstattung im Rundfunk eingefordert hatte. Das Ende dieser Doktrin war der Anfang des Aufstiegs des konservativen Talk radio in den USA.
Da dieser Prozess nicht nur spannend war, sondern auch einen Blick auf Entwicklungen erlaubt, die noch heute erheblichen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung und auf politische Konsequenzen haben, wird er an dieser Stelle ausführlich beschrieben.
Talk radio – eine Historie
Diese Ausführungen basieren zum großen Teil auf dem Artikel „The Repeal of the Fairness Doctrine and the Irony of Talk Radio“ von Juanita „Frankie“ Clogston, The Journal of Policy History, 28.2, 2016.
Die Radiolandschaft in den Vereinigten Staaten war lange Jahre hindurch zwar sicherlich groß und vielfältig, aber längst nicht in der Form politisch aufgeladen, wie es heute der Fall ist. Hierfür sind im Wesentlichen zwei Gründe maßgeblich: ein juristischer und ein technischer.
Der technische Grund für den Anstieg der Talk radio-Formate war: Ab den späten Siebziger Jahren überwogen die Sender, die ihr Programm auf UKW ausstrahlten, diejenigen, die auf herkömmlichen Kurz- oder Mittelwelle-Frequenzen sendeten. Aufgrund der höheren Klangqualität auf UKW verloren Anbieter von Musikformaten auf Kurz- oder Mittelwelle Zuhörer. Die Konsequenz vieler Sendeanstalten war es, auf „Talk radio“ umzuschwenken. Unter diesen dominieren bis heute die dem konservativen Spektrum zuneigenden Sendungen.
Der juristische Grund war letztlich ein politischer:
„There are signs of change in broadcasting today, connected with the shift toward neoliberalism in broadcast policy and the shift toward a multichannel environment. The Fairness Doctrine, which required ‚balanced‘ coverage of controversial public issues and which free-market advocates saw as unwarranted government interference with broadcast content, was abolished in 1987 and highly ideological radio programs, mostly on the right, have proliferated.“ (Daniel C. Hallin & Paolo Mancini: Comparing media systems. Three models of media and politics: Cambridge UP 2004, S. 217.)
Von 1949 bis 1987 galt in den USA die sogenannte Fairness-Doktrin. Die Federal Communications Commission (FCC), die Regulierungsbehörde für den amerikanischen Rundfunk, setzte die Fairness-Doktrin in Kraft, um eine ausgewogene und faire Berichterstattung über kontroverse Angelegenheiten zu gewährleisten. Die FCC befand, dass Sender aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit von Sendelizenzen als „öffentliche Treuhänder“ zu betrachten seien, Als solche hätten sie eine Verpflichtung, angemessene Gelegenheit für die Diskussion von Themen öffentlichen Interesses zu gewähren und in diesem Kontext kontrastierende Blickwinkel zu kontroversen Angelegenheiten zu berücksichtigen. Sprich: Jeder (gesellschafts-)politischen Meinung musste eine Gegenmeinung gegenübergestellt werden. Auf diese Weise sollte gewährleistet werden, dass sich Bürgerinnen und Bürger ein möglichst vollständiges Bild von gesellschaftlich relevanten Fragen machen konnten.
Kritik zog die Doktrin nicht nur vonseiten der Sender auf sich, sondern auch von Journalisten, die sich in ihrer Unabhängigkeit eingeschränkt sahen und sich auf den ersten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung beriefen. Das First Amendment verbietet es dem Kongress, Gesetze zu erlassen, die die Rede- oder Pressefreiheit einschränken.
Berühmt ist Mark Fowler für seinen Ausspruch: Ein Fernseher sei nichts anderes als ein Toaster mit Bildern. Er illustriert die marktfreundliche Politik der FCC zu dieser Zeit.
Ernsthafte Bestrebungen, die Fairness-Doktrin abzuschaffen, begannen während der Präsidentschaft von Ronald Reagan – in besonderem Maße vorangetrieben vom neuen Vorsitzenden der FCC. Mark Fowler, der von Ronald Reagan bestellt worden war, bereitete die Abschaffung der Fairness Doktrin mit einer bereits im Jahr 1984 veröffentlichten „Notice of Inquiry“ vor, mit der er die Doktrin zur Debatte stellte. Mehr als hundert Parteien sprachen sich für eine Fortführung der Doktrin aus, rund 30 dagegen, so die FCC, die 2009 in einem Rückblick die in den Achtzigerjahren zu den Akten genommenen Kommentare sichtete.
Viele der Gegner der Abschaffung waren der Meinung, dass der Markt Personen, die Gegenstand von Berichterstattung waren, nicht ausreichend schütze und dass öffentliche Regulierung notwendig sei, um diese Aufgabe nicht nur zu übernehmen, sondern diesen Personen auch Gelegenheit zu geben, ihren Standpunkt zu vertreten. Andere bezweifelten, dass die FCC überhaupt legitimiert sei, die Doktrin zu ändern.
„What united many conservative and liberal opponents was a belief that they could at any time be the minority that sought time to air—and that the Fairness Doctrine could best protect their opportunity to do so.“ (Clogston, S. 379.)
Interessanterweise, so führt Juanita Clogston aus, waren unter den Gegnern der Abschaffung so unterschiedliche Gruppen wie zivilgesellschaftliche Aktivisten auf der einen Seite (die National Association for the Advancement of Colored People oder die American Civil Liberties Union) und Konzerne wie Mobil und General Motors auf der anderen. Clogston zitiert Reed Irvine von der konservativen Mediengruppe „Accuracy in Media“:
„Businesses felt they needed the Doctrine to protect their ability to respond against potentially negative broadcasts.“ (Clogston, S. 379f. )
Die Befürworter ihrer Abschaffung beriefen sich einerseits darauf, dass Sendelizenzen nicht länger nur in begrenzter Anzahl vorhanden seien. Neue Stationen könnten sich leicht am Markt etablieren, so dass die besondere Verantwortung, die wenigen Sendern vorher für die öffentliche Meinungsbildung zugeschrieben worden war, nicht mehr notwendig sei – denn zwischen 1949 und den Achtziger Jahren hatte sich die Zahl der Radiosender vervierfacht; die der Fernsehsender hatte sogar um das Zwanzigfache zugenommen.
Der oberste Gerichtshof hatte bereits 1974 verfügt, dass Zeitungen nicht dazu verpflichtet werden könnten, Gegenmeinungen in gleichem Umfang abzudrucken, da dies den ersten Verfassungszusatz verletze.
Darüber hinaus lautete der Vorwurf, die Doktrin verletze den ersten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung, der Rede- und Pressefreiheit schützt, und lege unterschiedliche Maßstäbe für Print und für ausgestrahlte Sendungen an.
In der Diskussion über mögliche Auswirkungen auf die Medienlandschaft durch die Abschaffung der Doktrin spielte der Bereich des (konservativen) Talk radio kaum eine Rolle, obwohl einige Stimmen durchaus bereits zu diesem Zeitpunkt davor warnten, dass parteiische Radioformate bis hin zu „Hate Club Programs“ zunehmen könnten. Dennoch:
„Senator Bob Packwood said talk radio was ‚not on anyone’s bandwidth,‘ and that ‚it was not something we thought about, we didn’t even know it was going to exist‘.“ (Zitiert nach Clogston, S. 381.)
Die Fairness-Doktrin wurde schließlich im August 1987 abgeschafft. Sie war im Unterschied zu „Section 315 / Communications Act“ kein Bundesgesetz, das vom Kongress bestätigt worden war. „Section 315“ verlangte von den Sendern, dass sie allen qualifizierten Bewerbern für ein politisches Amt die gleichen Chancen einräumen sollten, die jeweilige Station für ihre Zwecke zu nutzen. Ausgenommen hiervon waren Nachrichtensendungen, Interviews und Dokumentationen. Die Fairness-Doktrin umschloss auch diese Maßnahmen. Dass sie allerdings „nur“ ein FCC-Grundsatz und kein Bundesgesetz war, führte jedoch letztlich zu ihrer Abschaffung.
Die offizielle Begründung lautete schlussendlich, dass sie den ersten Verfassungszusatz verletze. Ihre Aufhebung führte das Phänomen des konservativen Talk radio in die Medienlandschaft ein, „creating a new political force. It catapulted broadcasters like Rush Limbaugh to positions of influence“ (Clogston, S. 375).
Für viele ist das Ende der Fairness-Doktrin ursächlich mit dem Aufstieg des konservativen Talk radio verbunden. Die Zahl der informativen Radioformate, eben auch die der Talkshows und Sendungen zu öffentlichen Angelegenheiten, stieg in Kurzwellensendern zwischen 1987 und 1995 sprunghaft an: von 7 Prozent auf 28 Prozent. Doch obwohl (besonders konservative) Talk radio-Shows nach dem Wegfall erkennbar zunahmen und die Medienlandschaft sichtbar veränderten, waren es nicht die Vertreter von Talk radio-Interessen, die entscheidenden Einfluss auf diese Entwicklung nahmen:
„Indeed, talk radio was an ironic and unforeseen outcome of the repeal of the doctrine: many conservatives were actually against repeal, even though President Ronald Reagan and the FCC chairmen he appointed were for its elimination.“ (Clogston, S. 376.)