Selbstverständlich wird das Jahr 2017 als Super-Wahljahr bezeichnet, selbstverständlich ist die Rede von „Schicksalswahlen“ (besonders im Hinblick auf die Präsidentenwahl in Frankreich und die Wahl in den Niederlanden, aber auch im Kontext der NRW-Landtagswahlen und des Abschneidens der SPD).
Im Mai 2017 fragte der MDR allerdings kritisch, ob Landtagswahlen im Saarland und in Schleswig-Holstein, beherrscht von Themen wie „Bessere Schulen, weniger Stau“, wirklich ebenfalls als Schicksalswahlen bezeichnet werden müssten …
Doch neben einer nicht von der Hand zu weisenden Neigung der Medien, einmal gesetzte Schlagworte aufzugreifen und (manchmal inflationär) zu wiederholen, ist die Häufung von in ihrer Wirkung und Reichweite so unterschiedlichen Wahlen in einem überschaubaren Zeitraum tatsächlich verbunden mit Fragen, die über einen bloßen Wechsel politischen Personals hinausdeuten.
In der Reihenfolge des Erscheinens:
- Februar 2017 – Wahl des Bundespräsidenten in Deutschland
- März 2017 – Parlamentswahl in den Niederlanden, Landtagswahl im Saarland
- April 2017 – Verfassungsreferendum in der Türkei, Präsidentschaftswahl in Frankreich (Stichwahl am 7. Mai)
- Mai 2017 – Landtagswahl in Schleswig-Holstein, Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, Präsidentschaftswahl im Iran
- Juni 2017 – Britische Unterhauswahl, Parlamentswahl in Frankreich (auch zweiter Wahlgang)
- September 2017 – Bundestagswahl in Deutschland
Im gleichen Zeitraum fanden übrigens Wahlen statt in Bulgarien, Somalia, Turkmenistan, Ecuador, Somaliland, Serbien, Armenien, Algerien, Südkorea, Malta, Papua-Neuguinea und Albanien (und viele andere mehr) sowie die deutschen Sozialwahlen und die Wahl des Präsidenten des Europäischen Parlamentes; diese stießen aber auf deutlich weniger großes öffentliches Interesse.
Erkennbar ist ein bedauerlicher, aber nachvollziehbarer Eurozentrismus in der Berichterstattung und im Medienkonsum im Kontext dieser Wahlen. Was wird sich bei uns ändern, was bleibt, welche möglichen Änderungen bei den Nachbarn werden auch uns betreffen, welche Signalwirkung kann von radikale(re)n Wechseln ausgehen: Dies sind legitime Fragen, die die Presse behandelt und die Leser interessieren.
Der geschärfte Blick auf die Wahlen im europäischen und teils auch außereuropäischen Ausland geht 2017 jedoch über eine bloße (erweiterte) Nabelschau hinaus. Zu tief sitzt die Überraschung – der Schrecken -, den einige Wahlen bereits im Jahr 2016 ausgelöst haben:
Der weitverbreitete Glaube, dass Europa bei allen Querelen doch immer in einem Gefüge zusammenbleiben werde: erschüttert durch den (unerwarteten) Brexit. Die Annahme, dass sich in den Vereinigten Staaten von Amerika letztlich die Vertreterin des Establishments gegen den Kandidaten durchsetzen werde, der keine Gelegenheit ausgelassen hatte, gesellschaftliche Gruppen vor den Kopf zu stoßen: widerlegt.
Die Befürchtung, dass Österreich nach dem außenpolitischen Debakel eines Bundespräsidenten Kurt Waldheim einen Kandidaten aus dem sehr rechten Parteienspektrum in dieses Amt wählen würde: mehr oder weniger in letzter Sekunde abgewehrt (und mit 46,2 % der Stimmen für den rechten Kandidaten auch gar nicht einmal so deutlich).
Zurzeit stehen Dinge zur Debatte, deren weiterer Fortbestand von vielen doch nie angezweifelt wurde. Man konnte sich vorstellen, dass irgendein demokratischer Staat einen autoritären Umsturz erleben könnte. Aber doch nicht, dass er durch demokratische Mittel – Wahlen – nicht nur mehr links oder mehr rechts, progressiver, liberaler oder konservativer, sondern als solcher und in Gänze undemokratischer werden könnte.
Plötzlich ging es in den verschiedenen deutschen Wahlen nicht mehr nur um altbekannte, womöglich wechselnde Konstellationen; rot-grün, schwarz-gelb, große Koalition und Varianten davon. Nun drängte eine Partei auf den Wählermarkt, die – so sah es eine Weile lang aus – die alten prozentualen Gewichtungen würde durcheinanderwirbeln können. Und die Reaktionen seitens der Politik und seitens der Medien fielen sehr gemischt aus. Während einige nach Ursachen suchten und / oder um Abgrenzung bemüht waren, suchten andere das Gespräch mit denjenigen, die unzufrieden waren bzw. mit denen, die diese Unzufriedenheit bedienten. Auch die Motive, aus denen diese Reaktionen erfolgten, waren unterschiedlich: Abwehr? Leugnen neuer Entwicklungen? Der Wunsch danach, Bevölkerungsgruppen einzubinden? Oder sie als Wähler nicht zu verlieren? Oder eine demokratische Bestandsaufnahme zum Zustand der Gesellschaft?
Deutlich wurde, auch durch korrespondierende Meldungen aus anderen Ländern, dass demokratische Entwicklungen nicht linear verlaufen (müssen); dass Demokratie als solche der steten Verteidigung bedarf, damit sie nicht ausgehöhlt und angreifbar wird.
Die Sorgen um Europa, um gemeinsame politische Ziele wie etwa den Klimawandel, Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, den Umgang mit Geflüchteten, der Zustand der Pressefreiheit und der Unabhängigkeit der Justiz sind groß.
Eine Auswertung der gesellschaftlichen und persönlichen Gründe für Wahlentscheidungen hat die Tagesschau für die NRW-Landtagswahlen zusammengestellt.
Auf der anderen Seite: Wenn man sich die Themen ansieht, die etwa bei Landtagswahlen eine Rolle spielen, sind darunter auch solche, die sich eher auf die individuelle Lebensumgebung beziehen: Schule, Verkehr, Kriminalität.
Aber ob es nun die Sorge um die Welt- oder um die regionale Politik ist: Die in den vergangenen Jahren so geschrumpfte Wahlbeteiligung steigt seit 2016 wieder – bei allen Landtagswahlen und um bis zu zehn Prozent. (Dies gilt auch für die Wahl in NRW, die nach dem Erscheinen der entsprechenden Auswertung stattfand; hier gingen 5,6 Prozent mehr an die Wahlurnen.)
Einen Blick auf die Wahlbeteiligung auch im Hinblick auf jüngere Wähler werfen wir im Kapitel „Jung & online: Rückblick auf die UK-Wahl„.
Ob dies an populistischen Einlassungen liegt, die „die durch Rede und Gegenrede den politischen Diskurs befeuern“, an Bildern zur Flüchtlingskrise oder an Entwicklungen der Weltpolitik – der Demokratieforscher Wolfgang Merkel sieht Indizien für eine stärkere Politisierung der Menschen in europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten. Und er würde „nicht ausschließen, dass die Wahl Trumps uns in unserer politischen Zurückgezogenheit doch etwas erschreckt und aufgerüttelt hat und dazu führt, dass manche sich politischen Fragen stärker zuwenden“.
Diese „neue“ Aufmerksamkeit für Politik führt auch zu einer gesteigerten Form der Aufmerksamkeit dafür, was die politische Berichterstattung angeht. Die journalistische Aufmerksamkeit gegenüber Wahlergebnissen im Aus- und Inland war und ist exorbitant hoch. Aber auch „die Medien“ selbst werden beobachtet und analysiert: Wie berichtet die Presse über Wahlergebnisse, wie werden Ergebnisse ausgewertet, Prognosen gestellt? Steht nach Brexit und Trump die Prognostizierbarkeit von Ereignissen und Ergebnissen an und für sich zur Debatte? Oder haben Filterbubble und Co. auch bei den Vertretern der Presse ihre Wirkung gezeigt? Gehen sie anders mit politischer Berichterstattung um?
Rund um die Bundestagswahl 2017 behandelt unser Dossier „Wahlen und Medien diese Fragen“:
- Wie nutzt Politik Medien (und mit welchem Erfolg)?
- Wie sieht politisch Teilhabe aus und wie steht es um die Jungwähler?
- Welche Rolle spielen nicht-menschliche Faktoren, sprich: Was sind die technischen Möglichkeiten, Wahlen zu beeinflussen?
- (Wie) Haben sich die Medien im vergangenen Jahr verändert?
- Wie gehen sie mit dem Vorwurf der Fake News um, wie reagieren sie auf Populismus, wie international, wie lokal sind sie (geworden)?
- Stehen sie unter größerem Druck als zuvor?
Weiterlesen zu unserem Jahresthema „Demokratie“
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