Vor etwas über einem Jahr erschütterte das Brexit-Votum Großbritannien und die Europäische Union. Der Ausgang des Referendums sandte aber auch eine Schockwelle durch die jungen Generationen. Schließlich haben die Unter-45-Jährigen vorwiegend pro-europäisch abgestimmt, während die Generation 45+ sich in der Mehrheit für den EU-Austritt aussprach. Nach diesem Ergebnis ließ auch die übliche Häme über die politikverdrossene Jugend nicht auf sich warten: Da sich nur etwas über ein Drittel der 18- bis 24-Jährigen zur Wahlurne begeben hätten, könnten sie nun auch nicht behaupten, die ältere Generation hätte sie um ihre Zukunft betrogen.
Young people – if you’re so upset by the outcome of the EU referendum, then why didn’t you get out and vote?, hieß es zum Beispiel im Independent.
Piktochart zur Demografie des Brexit-Votums
Allerdings stimmte die Einschätzung der niedrigen Wahlbeteiligung unter den jungen Brit(inn)en nicht. Eine Untersuchung der London School of Economics legt vielmehr nahe, dass beinahe zwei Drittel der 18- bis 24-jährigen registrierten Wähler(innen) auch abgestimmt haben. Damit ist diese Gruppe zwar immer noch weit von den 90 Prozent Wahlbeteiligung der Über-65-Jährigen entfernt, aber die Generationen Y und Z sind eben politisch doch nicht ganz so apathisch, wie man ihnen gerne vorwirft. Das zeigte sich dann auch im Jahr nach dem Referendum, bei landes- und europaweiten Demonstrationen wie dem „March for Europe“ oder „Pulse of Europe“. Auch die zwischenzeitliche Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten hat die jungen Menschen auf die Straßen gebracht, zum Beispiel für den Women’s March.
Nach einem Jahr des politischen Tauziehens, das die Regierung unter Theresa May kalkulierte für sich und für einen harten Brexit entschieden zu haben, brachte die für den 8. Juni 2017 angekündigte vorgezogene Parlamentswahl in Großbritannien dann eine Überraschung: Das Land stand weit weniger einmütig hinter ihr und der Brexit-Politik der konservativen Mehrheit als vermutet: Die Tories verloren 13 Parlamentssitze, während die sozialdemokratische Labour-Partei 32 hinzugewann. Dieses Ergebnis zwang die Tories eine Minderheitsregierung zu bilden. Dieser Umschwung lag vor allem an der britischen Jugend. Im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2015 gingen 16 Prozent mehr der 18- bis 24-Jährigen zur Wahlurne. Damit wurde das Wachstum in der Wahlbeteiligung auf das höchste Niveau seit 25 Jahren vor allem von den Unter-34-Jährigen getragen. Die jungen Wähler(innen) waren auch die, die mehrheitlich die Oppositionspartei unterstützten: Über 50 Prozent der Unter-35-Jährigen stimmten für Labour. Damit zeigte sich der größte politische Unterschied zwischen den Generationen seit 1970. Er ging als ein „Youthquake“ durch die britische Gesellschaft.
Mehr zum Thema im Dossier Jugend: informiert und engagiert – online & offline.
So wie der Brexit nicht einfach mit einem apathischen jungen Wahlvolk zu erklären ist, gibt es für diese gelungene Mobilisierung der jungen Wähler(innen) in dem nur sechs Wochen kurzen Wahlkampf keine simple Erklärung. Das überraschend starke Labour-Ergebnis nur auf ihre Online-Strategie zurückzuführen, griffe zu kurz, vor allem da auch die Konservativen stark in Online-Wahlwerbung investiert haben. Nichtsdestotrotz zeigten sich im britischen Wahlkampf 2017 einige interessante Phänomene.
In ihrer Kampagnenstrategie investierte Labour in ein Tool namens „Promote“, mit Hilfe dessen gezielt bestimmte Wählergruppen auf Facebook angesprochen werden können. Dabei entschied sich die Partei bewusst für Facebook, da man auf Twitter ein stärkerer Echokammer-Effekt vermutete. Das heißt, es wurde befürchtet, dass sich auf Twitter die politischen Botschaften nur innerhalb der Anhänger(innen) weiter verbreiten, kaum aber neue Wähler(innen) gewinnen lassen. Außerdem nutzen im Vergleich zu Twitter beinahe doppelt so viele Brit(inn)en Facebook.
Facebook bietet selbst Kampagnen-Unterstützung für den digitalen Wahlkampf an. Dies wirft Fragen der Regulierung eines solchen Online-Wahlkampfes auf.
Eine ähnliche Strategie hatten die Konservativen bereits in der Parlamentswahl 2015 und im Vorfeld des Brexit-Referendums 2016 gefahren. Im Wahlkampf 2015 hatten die Tories 1,2 Millionen Pfund für Social-Media-Wahlwerbung ausgegeben; Labour nur 160.000. Facebook konnte auch schon damals beinahe das gesamte Social-Media-Budget der Parteien anziehen. Wie viel die Parteien im Wahlkampf 2017 für Social Media ausgaben, ist noch nicht bekannt. 2017 war Labour online erfolgreicher und aktiver als die Tories: Die Labour-Kampagne hatte eine Million Facebook-Likes, während die der Premierministerin May nur 400.000 Likes erreichte. In der letzten Wahlkampfwoche postete Labour pro Tag drei- bis fünfmal mehr auf Facebook als die Konservativen.
Den Unterschied zwischen beiden politischen Lagern machte 2017 unter anderem die Formulierung der Botschaften. Auf die Frage, welche politischen Botschaften sie mit der jeweiligen Partei verbinden, assozierten Wähler(innen) mit den Tories u. a. „negative campaigning“ und „Lügen“. Die Konservativen verbreiteten zum Beispiel gezielt Botschaften gegen den Labour-Kandidaten Jeremy Corbyn. Labours positive Botschaften hingegen – so die Einschätzung innerhalb der Labour-Kampagne – eigneten sich besser, um sie im eigenen Netzwerk zu teilen:
“The Tories spent vast amounts on digital advertising and local newspaper ads, but it was so negative that they got hardly any organic sharing – no one wanted to be associated with those messages”, said a senior campaign figure.
Außerdem unterstützten viele Stars Jeremy Corbyn und sorgten so für weitere jugendaffine Inhalte, die sich zum Teilen im Netz eignen. So traf der Londoner Rapper JME Jeremy Corbyn, um mit ihm über Fragen zu sprechen, die die Jugend dort betreffen.
Über die Browser-Erweiterung Who Targets Me? konnten Bürger(innen) nachverfolgen, wer sich auf Facebook mit bezahlten Posts an sie wandte. Die dabei gesammelten Daten werden an der London School of Economics ausgewertet. Die (nicht-repräsentativen) Daten zeigen zum Beispiel, wie die Labour-Partei in ihrer Facebook-Kampagne die politischen Botschaften gezielt an die betroffene Zielgruppe verteilte. Labours Wahlprogramm versprach zum Beispiel, Studiengebühren abzuschaffen. Facebook-Werbung zu diesem Thema sahen dann vor allem 19- bis 29-Jährige, während Wahlwerbung, die die konservativen Pläne zur Finanzierung der Altersversorgung im Land attackierte, vor allem von Über-50-Jährigen auf Facebook gesehen wurde. Weiter schien sich Labour in den letzten 24 Stunden des Wahlkampfes vor allem darauf zu konzentrieren, Bürger(innen) zum Wählen zu mobilisieren.
Aber die Labour-Kampagne hatte auch ein Offline-Standbein, nämlich Freiwillige, die vor allem in umkämpften Wahlkreisen unterwegs waren. Dieser Haustürwahlkampf ist in Großbritannien üblich. Um diese Freiwilligen zu organisieren, wurden aber wiederum Online-Tools eingesetzt, etwa Chatter, eine Art soziales Netzwerk für Unternehmen. Über mynearestmarginal.com konnten Aktivist(inn)en außerdem nachverfolgen, in welchen Wahlkreisen das Ergebnis knapp werden könnte, um dort die Kampagne entsprechend zu intensivieren. Ähnliche Tools gab es auch für Wähler(innen), um sich zu informieren, ob sich in ihrem Wahlkreis taktisches Wählen lohnt, oder sie konnten sich online organisieren, um ihre Stimme mit einem Wähler oder einer Wählerin in einem anderen Wahlkreis zu tauschen.
Anders als im deutschen Wahlsystem gibt es in Großbritannien keine Zweitstimme. Das heißt: In Großbritannien „zählen“ für die Mehrheitsverhältnisse im Parlament nur die Stimmen, die einem Kandidaten oder einer Kandidatin zum Parlamentssitz verholfen haben. Der Abstand, mit dem ein Sitz gewonnen wurde, drückt sich allerdings nicht in den Mehrheitsverhältnissen aus. Deswegen ist der Wahlkampf in den Wahlkreisen, in denen knappe Ergebnisse erwartet werden, in Großbritannien besonders wichtig, während „sichere“ Labour- oder Tory-Wahlkreise weniger Beachtung finden.
Dieser fundamentale Unterschied im politischen System verdeutlicht, dass sich Erkenntnisse aus dem Wahlkampf im UK nicht einfach auf Deutschland übertragen lassen. Darüber hinaus waren die politischen Voraussetzungen einer kurzfristig angesetzten Neuwahl zu einer Zeit, in der das Land von mehreren Terroranschlägen erschüttert wurde und immer noch über die möglichen Folgen des Brexit geredet wird, besondere. Nichtsdestotrotz zeigt die Parlamentswahl in Großbritannien, dass Gewissheiten in der Politik wie jugendliche Politikverdrossenheit oder sicher geglaubte Mehrheitsverhältnisse nach dem politisch turbulenten Jahr 2016 in Frage stehen können. Außerdem zeigte sich, wie wichtig soziale Medien für die Wahlwerbung geworden sind. In den vier Jahren seit der letzten Bundestagswahl hat sich also viel verändert, politisch genauso wie auch technisch und taktisch.
Weiterlesen zu unserem Jahresthema „Demokratie“
Mehr Artikel zum Thema „Wahlen und Medien“ |
|
Mehr Artikel zum Thema „Journalismus heute“ |
|
Mehr Artikel zum Thema „Gesellschaftliche Vielfalt“ |