Das Dossier „Ein Plädoyer für die Vielfalt“ zeigt, dass zu einer vielfältigen Gesellschaft die Repräsentation ihrer Mitglieder gehört, dass jeder die Möglichkeit haben soll, mit seinem Anliegen nicht nur zu Wort zu kommen, sondern auch gehört zu werden, und dass es jedem möglich sein muss, nicht nur an den Produkten, sondern auch an der Entstehung der digitalen Gesellschaft teilzuhaben.
An den Beispielen der „LSBTTI in den Medien“, „Migrant(inn)en im Journalismus“ und „Mediale Teilhabe – inklusiv“ zeigen wir, wie sich diese Notwendigkeiten einer vielfältigen Gesellschaft für unterschiedliche Zielgruppen und in den unterschiedlichen Bereichen unserer Medienwelt umsetzen lassen. Jede dieser Zielgruppen hat spezifische Bedürfnisse, dennoch haben sie eines gemeinsam: Sie und ihre Fürsprecher setzen sich aktiv dafür ein, dass sie Teil der Gesellschaft sind. So unterschiedlich die einzelnen Gesellschaftsgruppen auch sind, die Tätigkeitsfelder und Methoden eines solchen Einsatzes ähneln sich auch über die Zielgruppen hinweg und ermöglichen von der „Best Practice“ anderer zu lernen – für einen Aktivismus, der sich medial für eine vielfältige Gesellschaft einsetzt.
Grundlage: Wissen schaffen
Durch ein umfassendes Bild der Vielfalt der Bedürfnisse innerhalb der Zielgruppen sowie der Hintergründe und Dynamiken ihrer Benachteiligung können Ansätze zur Förderung gesellschaftlicher Vielfalt zielgerichteter geplant werden. Hier sind wissenschaftliche Untersuchungen unersetzlich.
Gerade im Bereich der Inklusion von Menschen mit Behinderung in unsere Gesellschaft, sind sich viele der unterschiedlichen Bedürfnisse der Zielgruppe wie auch ihrer Fähigkeiten nicht bewusst. Die Mediennutzungsstudie 2016 der TU Dortmund und des Hans-Bredow-Instituts an der Uni Hamburg deckt im Auftrag der Aktion Mensch und der Medienanstalten der Länder auf, welche Barrieren Menschen mit Behinderung in einem bestimmten Gesellschaftsbereich – hier dem Medienkonsum – entgegenstehen. Die Grundlage bildeten Gespräche mit 610 Menschen mit Seh-, Hör-, mit körperlich-motorischen Beeinträchtigungen und mit Lernschwierigkeiten. Aus ihren Perspektiven ergibt sich auch ein Bild der Vielfalt der Zielgruppe und ihrer unterschiedlichen Bedürfnisse.
Ebenfalls können wissenschaftliche Studien helfen, ein komplexeres Bild der Herausforderungen zu zeichnen, die es auf einem Weg zu einer vielfältigeren Gesellschaft zu meistern gilt. Die Studie „Migranten als Journalisten?“ macht deutlich, dass nicht nur verschiedene Formen der Vorurteile seitens der Redaktionen dazu führen, dass Migrant(inn)en im Journalismus unterrepräsentiert sind, sondern dass auch jungen Menschen aus Einwandererfamilien der Journalismus als Berufsperspektive nicht attraktiv erscheint, was wiederum an einer Vielzahl von Gründen liegt, wie etwa stereotypisierender Repräsentation von Migrant(inn)en in den Medien.
Im Zusammenhang mit der Diskriminierung von Homosexuellen in NRW konnte gezeigt werden, dass die Feindlichkeit gegen diese Gesellschaftsgruppe auch mit der Abwertung anderer Gruppen zusammenhängt und sich die Mechanismen gleichen:
„In der Regel neigt jemand, der zum Beispiel fremdenfeindlich eingestellt ist, mit größerer Wahrscheinlichkeit auch ebenfalls zu antisemitischen, rassistischen, islamfeindlichen, sexistischen und auch homophoben Einstellungen; er oder sie tendiert sogar mit größerer Wahrscheinlichkeit auch dazu, Obdachlose, Langzeitarbeitslose oder Menschen mit Behinderung abzuwerten.“
(Studie Abwertung gleichgeschlechtlich liebender Menschen in NRW)
Dieses Ergebnis macht deutlich, dass Aktivismus für eine vielfältige Gesellschaft zielgruppenübergreifend mit ähnlichen Problemen konfrontiert ist; in diesem Fall mit der Dynamik der Abwertung bestimmter Gesellschaftsgruppen durch Vorurteile und Diskriminierung. Daraus ergibt sich für den Aktivismus für eine vielfältige Gesellschaft das ebenfalls zielgruppenübergreifende Ziel, solchen Hierarchisierungen entgegenzuwirken, z. B. durch das Ermöglichen von Perspektivwechseln und die Betonung von Gemeinsamkeiten.
Drei Schritte für eine vielfältige Gesellschaft
Nach dieser Identifikation der Herausforderungen an die Gesellschaft geht es darum, ein Bewusstsein für die Probleme zu schaffen. Gemeinsamkeiten zu betonen, ist eine Strategie, um Verständnis zu schaffen. In der Kampagne „Wir haben mehr gemeinsam als du denkst“ stellt die Aktion Mensch Leute vor, deren gemeinsame Interessen sie verbinden. Ein Panel muss erraten, was diese Gemeinsamkeiten sind. So zum Beispiel Barbara und Sophie, beide Filmbloggerinnen – die eine blind, die andere sehend.
Durch dieses Paar wird deutlich, dass die Möglichkeiten von Menschen mit Behinderungen meist unterschätzt werden. „Also sie kann nicht sehen, deswegen kann sie natürlich auch keinen Film kritisieren“, erklärt einer der Ratenden, warum er nicht an diese verbindende Tätigkeit gedacht hat. Vorgestellt wird durch diese beiden auch, mit welchen technischen Hilfsmitteln Barbara Film-„schauen“ und anschließend darüber schreiben kann. Der dritte Schritt: aktiv werden, um diese Möglichkeiten zu verbessern. Barbara und Sophie wollen Workshops mit Jugendlichen durchführen, um sie als Medienkonsument(inn)en und Medienmacher(innen) der Zukunft für das Thema Barrierefreiheit zu sensibilisieren. Aktiv werden kann auch, wer ihren Aufruf sieht, indem er oder sie für das geplante Projekt abstimmt und sie damit der Finanzierung durch die Aktion Mensch einen Schritt näherbringt.
Diese Kampagne zeigt, wie durch einen Überraschungseffekt Interesse geweckt wird, wie der Perspektivwechsel gelingt und Bewusstsein für ein gesellschaftliches Problem in eine Aktion umgesetzt werden kann. Diese drei Schritte – Bewusstsein schaffen, Perspektivwechsel ermöglichen und Aktivismus initiieren – können auch die Grundlage für Aktivismus in anderen Gesellschaftsbereichen sein. Um Verständnis für Barrieren, Diskriminierung und Benachteiligungen zu schaffen und damit ein breites Publikum zu erreichen, eignen sich audiovisuelle Medien besonders und können alle drei Schritte hin zu einem Aktivismus für Vielfalt begleiten.
Mehr zu Aktivismus per Webvideo im Handbuch „Medien & Nachhaltigkeit“.
Videoplattformen bieten Aktivist(inn)en Möglichkeiten, ihre Kritik sowie Bilder und Töne einer vielfältigen Gesellschaft öffentlich zu machen. Die ARD-ZDF-Onlinestudie (2015) zeigt: Videoportale wie YouTube erreichen etwa 60 Prozent der Onliner ab 14 Jahren. Die 14- bis 29-Jährigen schauen zu fast 100 Prozent zumindest gelegentlich Videos im Internet. Die potenzielle Reichweite für Aktivismus online ist damit gerade für eine junge Zielgruppe hoch.
1) Bewusstsein für Vorurteile, Hindernisse & Diskriminierung schaffen
Gerade wenn Menschen persönliche Erfahrungen mit einem bestimmten Thema oder einer bestimmten „anderen“ Gruppe in der Gesellschaft fehlen, sind es Vorurteile und unkritisch übernommene Medienbilder, die den Eindruck von dieser Gruppe prägen. Der YouTube-Kanal „Frag ein Klischee“ zeigt, welche „Klischees“ mancher Leute Vorstellungen von Lesben, Transgender, Muslimen, Gehörlosen usw. prägen. Die Macher des Kanals, Hyperbole TV, wurden 2015 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. In dem Beitrag „Frag eine Afro-Deutsche“ wird Thandi Sebe gefragt: „Warum habt ihr eigentlich alle die Musik im Blut?“
In ihrer Antwort auf dieses Stereotyp macht sie deutlich, dass dies nichts mit der Wahrheit zu tun hat, sondern allein mit der in den Medien verbreiteten Assoziation von Schwarzen mit Tanzen und Musik. Ebenso erklärt sie, dass schwarze Menschen in den Medien unterrepräsentiert sind und „immer nur dann auftauchen, wenn von Musik die Rede ist“. Das heißt, vielfältige Repräsentationen, die dieses Stereotyp in Frage stellen könnten, fehlen in den Medien.
Diesen Mangel an vielfältigen Bildern verschiedener gesellschaftlicher Gruppen deutlich zu machen und auszugleichen, um damit den vorhandenen Stereotypen zu begegnen, ist eine Methode des Aktivismus für eine vielfältige Gesellschaft. Der Beginn ist eine Reflexion der Stereotype durch eine neue Perspektive auf die Ansichten, die sich in Vorurteilen und unreflektierter Sprache äußern.
2) Durch einen Perspektivwechsel gewohnte Bilder brechen
Kritik an Stereotypen, indem sie diese überzeichnet und gleichzeitig bricht, übt die YouTube-Serie „Besser Deutsch“. In den Videos „erklärt“ Jilet Ayset Journalist(inn)en, wie sie zum Thema Migration „endlich alles richtig machen“. Die Videos sind eine kreative Weise, die Inhalte des Glossars zur Einwanderungsgesellschaft des „Neuen Deutschen Medienmacher e. V.“ zu vermitteln.
Sie dekonstruiert in ihren Videos die – mal leiseren und mal lauteren – diskriminierenden Untertöne in den Begriffen, mit denen über die Einwanderungsgesellschaft Deutschland gesprochen wird. Zum Begriff „Asylbewerber“ merkt sie beispielsweise an, dass Asyl ein Grundrecht ist, auf das man sich nicht „bewerben“ kann.
Auch Jilet Ayses eigener YouTube-Auftritt ist ein Spiel mit dem Klischees über Migrant(inn)en in Deutschland: ungebildet, prollig, laut – kurzum ein Integrationsalbtraum; so tritt sie in ihren Videos auf. Idil Baydar, die Jilet verkörpert, hält mit ihrer Kunstfigur den Zuschauer(inne)n einen Spiegel vor, indem sie Klischees in überspitzter Form bestätigt, dabei aber gleichzeitig unterwandert. Das Video über Idil Baydars Kanal ist Teil des Unterrichtsmoduls „Alternativen aufzeigen“ von ufuq.de. Das Unterrichtsmodul nutzt das Medium der Comedy, um mit Jugendlichen über Diskriminierung und Ausgrenzung, Religion oder Radikalisierung ins Gespräch zu kommen.
„Queere Tiere“ und weitere Raps von Sookee „Sobald sich das alles normalisiert hat und sobald diese Gerechtigkeit eingetreten ist, von der ich träume, dann halte ich meine Klappe. Aber der Punkt ist eben noch nicht ganz erreicht.“ (Sookee)
Zum Thema Homophobie und Sexismus im Hip-Hop veranstaltete die Initiative anders und gleich – Nur Respekt wirkt 2014 einen Workshop mit der queer-feministischen Rapperin Sookee und dem Berline Rapper Repfolk. Dabei reicht das Spektrum von offener Hassrede bis zum subtileren Bedienen von Geschlechterklischees. Sookee setzt sich auch in ihrer Musik und auf YouTube für eine vielfältige Gesellschaft ein. Ihr Ziel ist es, mit ihrer Musik auch die zu erreichen, „die bisher nicht zuhören wollen“ und sich eher keine Gedanken um soziale Gerechtigkeit machen. Damit ist sie mit ihrer Musik und ihren Videos ein Beispiel für den Schritt von der Medienkritik hin zum medialen Aktivismus.
3) Aktiv in der Medienproduktion
Audiovisuelle Medien eignen sich aber nicht nur, um Stereotype oder Diskriminierung zu thematisieren und sichtbar zu machen, ihre Produktion ist auch eine Möglichkeit, (gerade junge) Menschen für eine vielfältigere Gesellschaft aktiv werden zu lassen, und bietet den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen selbst eine Möglichkeit, für ihre Sache aktiv zu werden.
Das Medienprojekt Wuppertal porträtiert Jugendliche verschiedener Gesellschaftsgruppen und lässt sie zu Wort kommen. Dabei sind junge Menschen im Alter von 14 bis 28 Jahren selbst in die Produktion eingebunden. Die Filme der Initiative dürfen zu nicht-gewerblichen Zwecken öffentlich vorgeführt werden und kommen mit passendem Bildungsmaterial. Neben Filmen zu den Themen sexuelle und geschlechtliche Identität, sexualisierte Gewalt und Beziehungen sind im Medienprojekt Filme über interkulturelle Erfahrungen entstanden, den Alltag mit Behinderung und Krankheit oder das Leben mit psychischen Beeinträchtigungen.
Auch bei queerblick.tv werden Jugendliche selbst zu Medienmacher(inne)n. Seit 2009 versucht das Projekt, Jugendliche mithilfe von Medien im Coming-out zu unterstützen, ihre Perspektive auf sexuelle und geschlechtliche Identität sichtbar(er) zu machen und Vorurteilen entgegenzuwirken. Es trägt auch dazu bei, dass sich die Jugendlichen durch die gemeinsame Medienarbeit vernetzen.
Damit die Medienproduktion als Form des Aktivismus für eine vielfältigere Gesellschaft gelingt, unterstützen zum Beispiel die Neuen deutschen Medienmacher NGOs, migrantische Gruppen und Netzwerke sowie andere ehrenamtliche Initiativen bei ihrer Medienarbeit. In den Medientrainings werden Teilnehmer(innen) in der Pressearbeit, im Umgang mit Interviewanfragen oder der Online-Arbeit geschult. Das Motto: „Wer etwas zu sagen hat, der muss auch gehört werden!“
Mit Gegenwind rechnen und ihn für die eigene Sache nutzen
YouTube ist bunt, aber nicht frei von Schatten: Wer sich auf Youtube und Co. für eine vielfältige Gesellschaft einsetzt, muss leider auch mit Hass und Hetze gegen die eigene Person oder die Gruppe rechnen, für die man sich eigentlich einsetzen möchte. Einige der oben vorgestellten YouTube-Stars reagieren im Format „DISSLIKE“ – ebenfalls von Hyperbole TV – auf die Hasskommentare, die gegen sie gerichtet werden. Ein Versuch, mit (teils bissigem) Humor auf die Anfeindungen zu reagieren.
Ebenso sind auch in den Videos bekannter YouTuber Vorurteile und Hassbotschaften zu finden. Der Youtuber und Rapper Mert Eksi (knapp 800.000 Follower) zum Beispiel, verlautbarte im Frühjahr 2017 in einem seiner Videos: „Ich toleriere Schwule einfach nicht!“. Aber viele YouTuber wollten seine „Meinung“ nicht unkommentiert stehen lassen und drehten selbst Videos, in denen sie deutlich machten, dass sie wiederum dies nicht tolerieren. Verbreitet wurden die Videos unter dem Hashtag #wirgegenhomophobie, unter dem auch auf Twitter über Eksis Video debattiert wurde. Die YouTube-Community stellte sich damit gegen Diskriminierung und Hetze, wie sie es bereits mit Aktionen wie #YouGeHa, Youtuber gegen Hass, getan hat.
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