„[…D]er Rundfunk [gehört] ebenso wie die Presse zu den unentbehrlichen modernen Massenkommunikationsmitteln, durch die Einfluß auf die öffentliche Meinung genommen und diese öffentliche Meinung mitgebildet wird. Der Rundfunk ist mehr als nur ‚Medium‘ der öffentlichen Meinungsbildung; er ist ein eminenter ‚Faktor‘ der öffentlichen Meinungsbildung.“ (BVerfG, Urteil v. 28.02.1961, Az. 2 BvG 1, 2/60)
Mit seinem ersten Rundfunkurteil aus dem Jahr 1961 machte das Bundesverfassungsgericht die bedeutende (Doppel-)Rolle der Massenmedien, insbesondere des Fernsehens, für die Meinungsbildung in der Gesellschaft deutlich. Der Rundfunk ist einerseits Plattform für die Meinungsbildung und andererseits ein aktiver Teilnehmer der Debatte, zum Beispiel in Form von Kommentaren (vgl. Holznagel, Bernd, 1999: Der spezifische Funktionsauftrag des ZDF, S. 16).
Aus dieser besonderen Funktion leitet sich einerseits die Notwendigkeit zur Unabhängigkeit des Rundfunks ab, damit nicht eine einzige Gruppe bestimmen kann, „was nicht gesendet werden […] und wie das Gesendete geformt und gesagt werden soll“, aber auch die Pflicht, „daß alle in Betracht kommenden Kräfte in ihren Organen Einfluß haben und im Gesamtprogramm zu Wort kommen können“ und zwar mit „ein[em] Mindestmaß von inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung“. Dieses Urteil wurde Grundlage für die Rundfunkgesetzgebungen und bestimmt noch heute, wie TV und Radio ihre besondere Verantwortung und (Doppel-)Rolle in der Meinungsbildung wahrnehmen.
Ebenso formuliert der Pressekodex Leitlinien für die Presse. So heißt es dort zum Beispiel: „Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“ Zu einer solchen „wahrhaftigen Unterrichtung der Öffentlichkeit“ gehört zum Beispiel auch, „dass die Presse in der Wahlkampfberichterstattung auch über Auffassungen berichtet, die sie selbst nicht teilt“. Auch Teil des Pressekodex ist ein verantwortungsvoller Umgang mit Informationen, die dazu geeignet sind, Individuen und Gruppen Schaden zuzufügen.
Diese Richtlinien formulieren ein Ideal der Art und Weise, in der Medien ihre Rolle in der Meinungsbildung einer Gesellschaft wahrnehmen:
- Sie berichten unabhängig, wahrhaftig und sachlich.
- Sie ermöglichen dem Publikum den Zugang zu einer Vielfalt an Meinungen.
- Sie achten die Vertreter unterschiedlicher Meinungen im Speziellen und die Würde des Menschen im Allgemeinen.
- Sie fühlen sich verantwortlich für den Einfluss, den ihre Arbeit auf die öffentliche Meinung hat.
Ideal und Wirklichkeit – Die Flüchtlingsdebatte in den Medien
Die Berichterstattung 2015
Die ZDF-Dokumentation „Das Schicksal der Kinder von Aleppo“ erzählt die Geschichte der Flucht einer syrischen Familie nach Deutschland und wurde 2017 für einen Oscar nominiert.
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen gab der gesellschaftlichen Debatte um die Aufnahme von Flüchtlingen besonders 2015 großen medialen Raum. Die Nachrichten berichteten täglich über den Krieg in Syrien und die Zustände auf den Flüchtlingsrouten. Journalisten stellten Hintergrundberichte und Dokumentationen zum Thema zusammen und kommentierten die Lage (z. B. Panorama Extra: Flüchtlinge – Wie Deutschland mit ihnen umgeht). Auch Probleme mit der Integration von Geflüchteten wurden thematisiert, zum Beispiel bei ZDFzoom: „Ein Staat – Zwei Welten.“ (Erstausstrahlung September 2015). In Talkshows kamen Experten und Politiker mit unterschiedlichen Blicken auf das Thema zu Wort – auch Gegner der Einwanderung.
Mehr dazu in unserem Kapitel „Informationen und Nachrichten für Flüchtlinge“
Flüchtlinge dokumentierten und erzählten selbst ihre Erfahrungen. Für sie wurden auch Medienangebote in anderen Sprachen geschaffen (z. B. WDR for you), um ihnen die Teilhabe an der Debatte und somit an der deutschen Gesellschaft zu ermöglichen.
Die Debatte um die Debatte
Auch wenn sie versucht haben, über eine Vielzahl von Formen und aus verschiedenen Perspektiven über das Thema Flucht und die Flüchtlinge in Deutschland zu berichten, gerieten sowohl ARD und ZDF als auch die Presse in die Kritik, tendenziös über das Thema Flüchtlinge zu berichten. Im Oktober 2015 stimmte in einer repräsentativen Forsa-Umfrage fast die Hälfte der Befragten der Aussage „Die von oben gesteuerten Medien verbreiten nur geschönte und unzutreffende Meldungen“ zu und zog damit die Unabhängigkeit der Medien in Zweifel.
Diese Kritik entlud sich besonders rund um die verzögerte Berichterstattung zur Silvesternacht in Köln 2015/16 – mit dem Vorwurf, die Medien hätten bewusst Informationen zu den Diebstählen und zu den sexuellen Übergriffen auf Frauen sowie die Herkunft der Täter verschwiegen.
So kritisierte zum Beispiel der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer, beim Thema Flüchtlinge sei viel zu häufig die persönliche Überzeugung der Autoren der Maßstab für die Berichterstattung. Damit wurden die Objektivität und Ausgewogenheit der Berichterstattung in Frage gestellt. Seehofers spätere Forderung nach einer Zusammenlegung von ARD und ZDF, die so nun auch im Grundsatzprogramm seiner Partei steht, wurde schließlich als Gefahr für die Vielfalt von Medien und Meinungen in Deutschland kritisiert:
„Es wäre ein Riesenverlust für die Menschen in Deutschland, wenn ARD und ZDF verschmelzen würden. Gerade in unserer Zeit, in der wir um Demokratie und Vielfalt kämpfen müssen und damit eben auch eine intensive Nachrichten- und Informationsstrecke brauchen, ist das ein absolut kontraproduktiver Vorschlag.“ (Kurt Beck, SPD)
Damit wurde die Flüchtlingsdebatte auch zu einer Diskussion über die Grundlagen der medial vermittelten Meinungsbildung.
Blinde Flecken auf beiden Seiten
Im Nachgang dieser Debatte zeigen wissenschaftliche Auseinandersetzungen, dass das Thema „Willkommenskultur“ die Pressedebatte 2015 bestimmte und mehrheitlich positive Berichte zur Flüchtlingsthematik veröffentlicht wurden. Einerseits lässt sich daran kritisieren, dass Probleme und negative Auswirkungen erst zu spät in den medialen Blick gerückt sind und Stimmen unzufriedener Bürger(innen) ausgeblendet wurden. Andererseits bemerkt der Studienleiter Prof. Michael Haller, Leiter der Journalismusforschung an der Hamburg Media School, dass die positive Berichterstattung durchaus auch die „Willkommenskultur“ selbst befördert haben könnte, die zur Bewältigung des Zustroms von Flüchtlingen beitrug. Mit der Silvesternacht in Köln jedoch hätten die Medien eine radikale Kehrtwendung hingelegt, erklärt Haller: „Plötzlich waren junge männliche Flüchtlinge und Asylbewerber der Problembär in Deutschland.“ Damit wechselte die Linse, durch die in der öffentlichen Debatte auf das Thema Flüchtlinge geblickt wurde.
Gerade das Beispiel der Berichterstattung über Köln macht deutlich, dass nicht nur die Entscheidung, über was (nicht) berichtet wird, die Meinungsbildung beeinflusst, sondern auch die Art und Weise, wie berichtet wird. Im Auftrag des Gunda-Werner-Instituts und der Heinrich-Böll-Stiftung untersuchte Dr. Ricarda Drücke, Assistenzprofessorin am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg, die Berichterstattung zu Köln bei ARD und ZDF und machte auf Defizite der Berichterstattung aufmerksam:
Bericht zur Änderung des Paragraphen 12.1 des Pressekodex im März 2017 bei ZAPP
Entgegen dem vieldiskutierten Paragraphen 12.1 des Pressekodex, der in seiner damaligen Fassung die Nennung der Herkunft von Tatverdächtigen nur bei „begründetem Sachbezug“ billigte, um das Schüren von Vorurteilen gegen Minderheiten zu vermeiden, wurde in 32 Prozent der Beiträge von Tatverdächtigen mit nordafrikanischer, arabischer oder anderer Herkunft gesprochen, jedoch meist ohne für diese Auskunft Quellen oder Beweise zu nennen. Damit, so argumentiert Ricarda Drücke, wurde die sexualisierte Gewalt „kulturalisiert“ und zum Problem, das von außen in die deutsche Gesellschaft getragen wird. Der Kreis der zum Thema Interviewten beschränkte sich fast ausschließlich auf Politiker(innen) und Vertreter der Polizei. Zeugen, Opfer oder Geflüchtete kamen in der Debatte kaum zu Wort. Damit verengte sich der Diskurs auf Fragen der Migrations- und Sicherheitspolitik, anstatt das Problem sexualisierter Gewalt gesamtgesellschaftlich zu diskutieren.
Kritisiert wurden auch Focus und die SZ, die die Debatte mit Bildern von schwarzen Männerhänden auf dem Körper einer weißen Frau illustrierten.
Schließlich bemängelt die Autorin, dass in vielen Berichten Handyvideos zur Illustration der Beiträge verwendet werden, die – anstatt Beweise zu liefern – lediglich suggerieren, Täter und Opfer zu zeigen, und durch ihre Unklarheit einen Raum für die Imagination und das Unsicherheitsgefühl des Betrachters schaffen.
An dieser Debatte wird deutlich, dass das Ideal der medial ermöglichten Meinungsbildung in der Realität nicht so einfach einzulösen ist. Alle Formen von Bild und Text und deren Kombinationen sind geeignet, die Meinung von Menschen zu beeinflussen, das gilt auch für die Mikroebene der Gestaltung von Berichten. Hier können Medien Zerrbilder und Stereotype schaffen, wie das des Migranten als Gefahr für die weiße deutsche Frau.
Einen Überblick über die Forschung zum Thema „Flucht und Asyl in den Medien“ gibt Heike vom Orde in der Ausgabe „Flucht und Ankommen“ der Televizion.
Medienmacher(innen) setzen Themen auf die gesellschaftliche Agenda – sei dies nun die Willkommenskultur oder die Angst vor sexuellen Übergriffen durch Fremde –; von diesen Trends lassen sie sich aber auch mitreißen und können darüber die notwendige Differenzierung der Debatte aus dem Blick verlieren. Erhalten bestimmte Gruppen nicht die Chance, Teil des medialen Forums zu werden, blenden Medienmacher(innen) auch deren Sicht auf die Dinge aus der Öffentlichkeit aus – seien es „besorgte Bürger“, Geflüchtete oder die Opfer sexualisierter Gewalt. Wenn die Betroffenen aber nicht Teil der Debatte um ihre Sache sind, leidet die Legitimität des medialen Meinungsbildungsprozesses. Unter dem Kampfbegriff „Lügenpresse“ verbirgt sich nichts anderes als die Absage an die Legitimität der bisherigen Formen, in denen Presse und Rundfunk die Meinungsbildung in Deutschland ermöglicht haben. Gleichzeitig sorgt diese Abkehr für die Grundlage einer Gegenöffentlichkeit, die sich vor allem im Internet gebildet hat.
Meinungsbildung im Netz
„Broadcast Yourself“
Da mit dem Web 2.0 die Gatekeeper-Funktion der klassischen Medien gefallen ist, können nun auch Internetnutzer(innen) selbst Themen auf die mediale Agenda setzen, ihre Meinung sowie ihre eigenen Perspektiven (mit)teilen. Ebenso ermöglichen Online-Plattformen die Diskussion zwischen Menschen, unabhängig von Ort und Zeit. Damit wirken sie Selektionsprozessen der klassischen Medien entgegen. Einerseits kann dies die mediale Debatte bereichern, gerade wenn in der gängigen Berichterstattung bestimmte Perspektiven ausgeblendet werden oder es an Differenzierungen mangelt. Andererseits sind auch diese Medien dem Ideal eines unabhängigen und produktiven Meinungsbildungsprozesses nicht unbedingt näher.
Auch wenn im News-Stream von sozialen Netzwerken keine Redakteure die mediale Agenda bestimmen: Algorithmen filtern, welche Nachrichten angezeigt werden. Durch Personalisierung, aufgrund von Beliebtheit bei den Nutzern, durch Werbegelder bezahlt oder von der Unternehmenspolitik gewollt, können bestimmte Meinungen in den Vordergrund treten und andere verschwinden. Im Gegensatz zu Presse und Rundfunk, deren Unabhängigkeit und Einsatz für Meinungsvielfalt durch Gesetze vorgeschrieben und geschützt sind, haben sich Suchmaschinen und Social Media jenseits eines solchen Systems entwickelt.
Welche Probleme dies für die Meinungsbildung bietet, lässt sich an der Debatte um Fake-News nachverfolgen. Die Algorithmen von Facebook differenzieren nicht zwischen „wahr“ oder „falsch“, so dass auch eine Falschinformation bei genügend Likes und Klicks ebenso oder gar wichtiger werden kann als eine wahre Nachricht. Das bekannteste Beispiel ist der US-Wahlkampf 2016, in dem die 20 erfolgreichsten Falschmeldungen öfter geteilt, geliket und kommentiert als die 20 erfolgreichsten Berichte seriöser Medien.
Mehr zum französischen Wahlkampf und journalistischer Strategien gegen Fake News bietet unser Bericht vom News Impact Summit 2017 in Paris.
Wie schnell und weit sich Falschmeldungen verteilen, lässt sich auch am Beispiel des französischen Präsidentschaftskandidaten Emanuel Macron zeigen. Auf eine Meldung zu seiner angeblichen Homosexualität, die von einer russischen Website stammt, bezogen sich über 17.000 Beiträge in Netz – nicht nur in Frankreich, sondern auch in den USA oder der Türkei. Besonders Twitter und Online-News-Seiten spielten bei der Verbreitung der Nachricht eine entscheidende Rolle, während die Online-Kanäle von Radio, Fernsehen Presse sie deutlich seltener aufgriffen.
Die Kommentarbereiche der Online-Ausgaben von Nachrichtenmedien ermöglichen es den Nutzer(inne)n, die Berichterstattung kritisch zu kommentieren. Daraus entsteht ein Feedback-Kanal, der Journalist(inn)en etwa auf Defizite in ihrer Berichterstattung aufmerksam machen oder das Spektrum erweitern kann. Eine Umfrage unter Online-Redakteuren kam 2014 zu dem Schluss, dass in der Mehrzahl der Redaktionen die Leserkommentare diskutiert werden und diese Einfluss auf die Berichterstattung haben. Im zeitlichen Vergleich kommt die Studie aber auch zu dem Schluss, dass Redakteure die Kommentare der Leser(innen) mittlerweile seltener als sinnvoll einschätzen und einen zunehmend polemischen Ton beklagen.
Eine schlechte Online-Debattenkultur wirkt dabei auch auf die Einschätzung des diskutierten Beitrags zurück. Teilnehmer(innen) eines Experiments an der Universität Hohenheim schätzten die Qualität von Online-Artikeln deutlich schlechter ein, wenn auf diese Kommentare ohne Argumente anstelle höflicher Kommentare folgten. Nur bei etablierten Online-Marken war dieser Effekt nicht zu messen.
Ebenso wirkt sich eine mangelnde Debattenkultur negativ auf die Meinungsbildung der Teilnehmer(innen) aus: In seinem Überblick über Studien zum Thema Debattenkultur im Netz kommt Arthur Santana, Assistenzprofessor für Kommunikationswissenschaften an der University of Houston, zu dem Schluss, dass sich die Ansichten von Menschen verhärten, wenn der Ton der Diskussion unhöflich wird. Seine eigene Untersuchung zeigt wiederum, dass die Anonymität der Teilnehmer(innen) von Online-Debatten einen solchen Ton wahrscheinlicher macht: In den von ihm untersuchten anonymen Debatten aus den USA enthielt mehr als die Hälfte der Kommentare zum Thema Einwanderung unhöfliche bis xenophobe und rassistische Formulierungen. Aber auch in nicht-anonymen Foren waren 30 Prozent der Kommentare zum Thema Einwanderung auf diese Weise bösartig. Durch diese mangelnde Kommentarkultur werden wiederum anderslautende Meinungen aus der Debatte ferngehalten, da sie diskreditiert werden, anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Mehr zum Thema in unserem Kontext „Informationsblasen im Internet“
Filter- und Personalisierungsmechanismen, die es Internetnutzer(inne)n ermöglichen, sich eine eigene Informationsblase zu erschaffen, in der sie nur noch Informationen und Menschen begegnen, die ihre eigene Meinung spiegeln und teilen, tragen ebenso dazu bei, dass sich die medialen Meinungssphären weiter voneinander entfernen. Von einem „Mindestmaß von inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung“, wie er für den Rundfunk in Deutschland vom Bundesverfassungsgericht festgeschrieben wurde, sind solche Debatten weit entfernt.
Der Faktor Mensch
Wie Medien die Meinungsbildung von Menschen beeinflussen, ist eine Frage, die die Kommunikationswissenschaft seit ihren Anfängen umtreibt. Klare und einfache Antworten auf diese Frage gibt es allerdings nicht, denn die Meinungsbildung ist ein komplexer Prozess und schwer empirisch überprüfbar, unter anderem weil die Abfrage einer Meinung diese bereits ändern kann oder auch weil die Teilnehmer(innen) in Fokusgruppen, in denen Experimente durchgeführt werden, selten für die Gesamtgesellschaft repräsentativ sind. Nichtsdestotrotz lassen sich aus Beobachtungen der Wissenschaft gewisse Trends erkennen.
So übernehmen Menschen Elemente aus dem medialen Diskurs in ihre eigene Argumentation, gerade wenn ihnen die persönliche Erfahrung zu diesem Thema fehlt (vgl.: Happer, C. and G. Philo, 2013: The Role of the Media in the Construction of Public Belief and Social Change. In Journal of Social and Political Psychology 1.1). Im Zuge von anvisierten Sparmaßnahmen bei der Sozialhilfe für Menschen mit Behinderung begann die britische Presse 2011 vermehrt über Fälle von Sozialbetrug zu berichteten. Zu dieser Zeit schätzten Teilnehmer(innen) einer Fokus-Gruppe der Glasgow University den Anteil von Betrug in diesem Bereich zwischen 10 und 70 Prozent ein. Die von den Forscher(inne)n zitierten offizielle Zahlen gehen aber lediglich von 0,5 Prozent aus. Nach ihren Quellen gefragt nannten die Probanden die Presse, in der tatsächlich einmal von einer 75-prozentigen Betrugsrate die Rede war. Von Fakt-Checkern wurden diese und ähnliche in der Tabloid-Presse verbreiteten Informationen allerdings als irreführend enttarnt. Hier zeigen sich die besondere Macht, die Medien über die Rahmung eines bestimmten Themas haben, und ihre Verantwortung für die mediale Erfahrung, die sie vermitteln.
Aber selbst wenn Menschen wissen, dass ihnen eine falsche Geschichte aufgetischt wurde, revidieren sie ihre aus der Geschichte gewonnene Einstellung nicht unbedingt. Melanie Green und John Donahue von der psychologischen Fakultät der University of North Carolina legten einer Gruppe von Student(inn)en eine Reportage über einen achtjährigen drogensüchtigen Jungen in Washington DC vor, für die die Autorin 1981 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Einem Teil der Leser wurde vor der Lektüre gesagt, es handele sich um eine fiktive Geschichte. Ein anderer Teil wurde im Nachhinein informiert, dass die Informationen im Artikel nicht der Wahrheit entsprechen. Tatsächlich entpuppte sich die Geschichte als falsch und die Journalistin gab ihren Preis zurück.
Mehr zur Geschichte von „Jimmy’s World“ im Columbia Journalism Review.
Nachdem sie wussten, dass die Geschichte falsch war, dachten die Teilnehmer(innen) zwar schlechter über die lügende Autorin, aber dennoch: Im Vergleich zur Kontrollgruppe, die vor ihrer Lektüre nach ihrer Meinung befragt wurde, stimmten die Leser(innen) trotz des Wissens um die Falschinformation eher der Aussage zu, dass das soziale Umfeld Menschen zu Drogensüchtigen macht. Dies legte die Geschichte nahe. Der Unterschied zwischen den über den Betrug Informierten und der Gruppe, die im Glauben gelassen wurde, die Reportage wäre korrekt, war dabei kleiner als der Unterschied zu den Nichtlesern. Auch die Leser(innen), die dachten, sie lesen eine fiktionale Geschichte, wurden in ihren Ansichten beeinflusst. Der Effekt war aber nicht bei allen Fragen in gleicher Form messbar. Das Autorenteam weist mit Blick auf die eigenen Ergebnisse und frühere Studien darauf hin, dass es Motivation und Kraft bedarf, um die eigene Position im Lichte neuer Tatsachen zu revidieren.
Auch wenn die Information über die Glaubwürdigkeit der Quelle im oben zitierten Beispiel die Einstellung der Menschen nicht veränderte, ist der Zweifel an der Glaubwürdigkeit anderslautender Informationen ebenso eine Strategie, um die eigene Meinung beizubehalten. Probanden eines Experiments an der Stanford University sollten die Glaubwürdigkeit von Studien zum Thema Todesstrafe beurteilen. Die Teilnehmer(innen), die die Todesstrafe befürworten, bewerteten dabei die Studie, die ihre Meinung bekräftigte, als glaubwürdiger als jene, die das Gegenteil behauptetet. Genauso erging es der Gruppe der Todesstrafen-Gegner. Am Ende waren sich beide Lager trotz der Lektüre von Argumenten beider Seiten in ihrer ursprünglichen Meinung sicherer.
Mehr zur Stanford-Studie, zum Hintergrund der US-Studie über politische Meinungen und zu weiteren wissenschaftlichen Erkenntnissen zu diesem Thema bietet der Artikel „Why Facts don’t change our minds“ (The New Yorker, 27.02.2017) von Elizabeth Kolbert.
Aber es gibt auch Hoffnung auf die Fähigkeit zur Selbstreflexion: Ein Team von US-amerikanischen Wissenschaftlern bat Testpersonen um ihre Meinung zu politischen Fragen, etwa ob Lehrkräfte nach Leistung bezahlt werden sollten. Im nächsten Schritt sollten die Teilnehmer(innen) so genau wie möglich erklären, wie die von ihnen befürwortete Politik umgesetzt werden sollte. Danach noch einmal nach ihrer Meinung gefragt, waren sich die Probanden in ihrer Sicht weit weniger sicher. Die Frage nach Gründen reichte aber nicht aus, um diesen Effekt zu erzielen. Die Forscher schließen daraus, dass politische Debatten produktiver wären, wenn Diskutanten erst einmal stichhaltig die Funktionsweise der von ihnen vertretenen Politik erklären müssten, bevor sie zu einer gewöhnlicheren Debatte über Einstellungen und Haltungen übergehen.
„More generally, the present results suggest that political debate might be more productive if partisans first engaged in a substantive and mechanistic discussion of policies before engaging in the more customary discussion of preferences and positions.“ (Fernbach, P. M.; Rogers, T.; Fox, C. R.; Sloman, S. A. 2013)
Vertrauen in die Medien im Eurobarometer
Hier geht’s zum kompletten Piktochart
Hoffnung gibt es auch mit Blick auf das Vertrauen der Deutschen in die Medien. In einer repräsentativen Umfrage der Europäischen Kommission im Rahmen des Eurobarometers gaben 2016 56 Prozent der Befragten an, Vertrauen in die Presse zu haben; im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung um 10 Prozentpunkte und der höchste Wert seit Beginn der Erhebung im Jahr 2000. Auch bei Radio und Fernsehen stieg das Vertrauen.
Angesichts der Kritik an den Medien im Umgang mit der Flüchtlingskrise und der Berichterstattung zur Silversternacht 2015/16 verwundert dieser positive Befund ein wenig. Michael Haller erklärt mit kritischem Blick auf die Eurobarometer-Zahlen, dass „Vertrauen“ eine sehr individuelle Kategorie sei. Deswegen, könnten auch repräsentativ angelegte Studien zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Forscher der Uni Mainz kamen zum Beispiel zum Ergebnis, dass ’nur‘ 40 Prozent der Deutschen glauben, man könne den Medien in wichtigen Fragen eher oder voll und ganz vertrauen. Aber auch sie sehen einen Aufwärtstrend im Vergleich zum vergangenen Jahrzehnt. In der Interpretation ihrer eigenen Umfrage weisen sie aber darauf hin, dass sowohl die Zahl der Medienskeptiker als auch die Zahl derjenigen, die den Medien vertrauen, während der vergangenen Jahre zugenommen hat. Abgenommen hingegen habe die Zahl derer, die den Medien nur zum Teil vertraut – also das Mittelfeld. Hier zeigt sich die Gefahr der Spaltung der Öffentlichkeit.
Wie weiter?
Auf der Dialogplattform „Lasst uns streiten“ der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung (SLpB) werden regelmäßig gesellschaftlich Themen diskutiert, z.B. „Flucht“ oder das Thema „Medien und ihr Einluss auf unsere Gesellschaft“. Wer mitmacht, wird nicht nur nach seiner Meinung zu einzelnen Thesen gefragt, sondern muss diese auch begründen und wird eingeladen, sich mit argumentativ mit Gegenpositionen auseinanderzusetzen.
Für die Meinungsbildung in einer Gesellschaft bedeuten diese Ergebnisse, dass der Bildung von Informationsblasen entgegengewirkt werden muss, sowohl im von Algorithmen gesteuerten Online-Bereich als auch in den „klassischen“ Medien, in denen sich ebenso eindimensionale Perspektiven auf bestimmte Themen verfestigen können. Die Vielfalt der Meinungen muss in beiden Bereichen geschützt und gestärkt werden, durch Offenheit für andere Meinungen und durch eine Gesprächskultur, in der gründlich, differenziert und nachvollziehbar argumentiert wird, anstatt auf billige Stereotype zurückzugreifen und Gegner zu diskreditieren. So verringert sich auch die Gefahr der Bildung von Gegenöffentlichkeiten.
Medien kommt dabei immer stärker die Vermittlerrolle zwischen verschiedenen Öffentlichkeiten und Interessengruppen zu. Grundvoraussetzung dafür jedoch ist, dass sie das Vertrauen der Menschen haben. Journalistische Prozesse und Arbeit transparent zu machen, die Bedeutung von Qualität im Journalismus zu vermitteln und einen (moderierten) Rückkanal zu bieten, eröffnet hier Chancen. Ein solches Ideal macht aber nicht nur Medienmacher(inne)n Arbeit, sondern verlangt auch dem Publikum Aufmerksamkeit, Selbstreflexion und den Willen zum Dialog ab.
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