Viel wird über die Situation von Flüchtlingen geschrieben, viel wird über sie gesprochen; selten kommen Flüchtlinge selbst zu Wort und können zeigen, wie es wirklich ist, aus der eigenen Heimat zu fliehen und zum Beispiel in Deutschland neu anzufangen.
Das Leben von Flüchtlingen und ihre Situation unterwegs und in ihrer neuen Heimat werden im Internet multimedial sichtbar: als Transmedia-Geschichten, als Virtual-Reality-Umgebung oder als Computerspiel.
Transmedial
Der NDR nutzte 2015 den Nachrichtendienst What’s App, um seinen Zuschauern die Flucht des syrischen Anwalts Rami noch näher zu bringen, als dies über das Fernsehen möglich ist. Zusätzlich zur „Panorama“-Doku „Protokoll einer Flucht“, die Rami während eines Teils seiner fünfmonatigen Flucht mit der Kamera begleitete, haben die Autoren seine Fluchtgeschichte über den Kurznachrichtendienst What’s App erzählt.
Rami verschickte dazu drei Wochen lang Bilder, Nachrichten und Videos, die er während seiner Flucht aufgenommen hatte, an 1.900 Nutzer(innen). So konnten sie aus seiner Perspektive erfahren, wie es ist, während der Fahrt über das Mittelmeer in einem winzigen Boot zu sitzen, mit Schleusern zu verhandeln, auf dem Weg von der serbischen Polizei gestoppt und wieder zurückgeschickt zu werden, nicht zu wissen, was passiert, trotz Verletzungen weiterzugehen und schließlich endlich anzukommen; in Ramis Fall in Dänemark.
Alle Nachrichten von Rami sind online archiviert. Außerdem konnten Nutzer(innen) Rami über What‘s App Fragen stellen. Eine Reihe der persönlichen Nachrichten an Rami und Feedback zur Dokumentation hat der NDR online dokumentiert; auch Hasskommentare und Anfeindungen gegen ihn, auf die er in einem Video antwortet.
Seine Geschichte kann nun als Transmedia-Dokumentation nachvollzogen werden. Das Besondere an dieser Website ist die mediale Gestaltung per „scrollytelling“. Das heißt, die Seite wird nicht durch Klicken, sondern durch Scrollen erkundet. Eingebettet sind Audios, Videos, Bilder und Texte, die damit einen umfassenden Eindruck vermitteln und zum Geschichten-Charakter dieser Website beitragen.
Das Bistum Essen hat eine Transmedia-Reportage über die Flüchtlingsunterkunft in Gelsenkirchen-Scholven veröffentlicht. Innerhalb weniger Tage wurde dort ein Schulgebäude zur Unterkunft für neu angekommene Flüchtlinge.
Scrollbare Einblicke, wie das erste Jahr in Deutschland für Flüchtlinge aussieht, gibt auch die Transmedia-Reportage „Ein Jahr Deutschland“ des WDR. Die Journalist(inn)en haben die kurdische Familie Haso, die aus Syrien nach Dortmund geflohen ist, ein Jahr lang begleitet.
Die Leserinnen und Leser erfahren, welche bürokratischen Schwierigkeiten etwa dem Familiennachzug oder der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen im Wege stehen, und sie sind Zeugen davon, wie die Familie auf eigene Faust anfängt, Deutsch zu lernen.
Die SWR-Journalistinnen Sandra Müller und Katharina Thoms werfen seit 2015 einen Blick aufs Geschehen, der den Fokus nicht auf die Flucht, sondern auf das Ankommen und auf diejenigen lenkt, die die Ankommenden empfangen. In ihrer Langzeit-Reportage „Jeder sechste ist ein Flüchtling“ verfolgen sie, wie in einer baden-württembergischen Kleinstadt ein Erstaufnahmeheim entsteht: von den Planungen über Bürgerkonsultationen und die Ankunft der Geflüchteten – bis hin zu den Konflikten, die in der 5.000-Einwohner-Stadt entstehen, und der stetig wachsenden Zahl auch an Ehrenamtlichen, die sowohl die Bewohner des Heims als auch – durch Vermittlung und Aufklärung – die Bewohner der Stadt begleiten. Wie lange es das Heim noch gibt, ist unklar. Die Journalistinnen werden dokumentieren, wie es weitergeht.
Für den Grimme Online Award 2016 nominiert war die Reportage „Im Dschungel von Calais“. Autor und Streetworker Hammed Khamis ist 2015 für zehn Tage in das illegale Flüchtlingslager gereist, in dem bis zu 6.000 Menschen darauf hoffen, nach Großbritannien zu gelangen. In Calais sammelte er, der Arabisch spricht und selbst aus einer Familie mit Fluchterfahrung stammt, die Geschichten derjenigen, die schon seit Monaten auf ihre Chance warten, auf Güterzügen, LKWs oder zu Fuß durch den Eurotunnel zu gelangen. Die Bilder und Texte beschreiben das Camp als eine Mischung aus Slum und einer Stadt aus Müll und Planen. Die vielen Journalisten vor Ort machen das Camp aber auch zum Zoo, indem sie etwa aus Autos fotografieren und sich gerade nicht für die einzelnen Menschen interessieren.
„Wir beschließen, unsere Kameras nicht offen am Körper zu tragen, sondern sie irgendwie in unsere Kleidung zu integrieren. Dies tun wir aus Respekt von den Geflüchteten. Sie sollen sich nicht wie Tiere vorkommen, die man im Zoo besucht, weil man noch nie so eine exotische Spezies gesehen hat.“ (Hammed Khamis am Tag 4 seiner Reise)
Ein Interview mit Hammed Khamis zum Dschungel von Calais ist im Blog „quergewebt“ der Kolleginnen vom Grimme Online Award zu lesen.
Indem er diese Schicksale in der Reportage auf Deutsch und Englisch weitererzählt, hofft Khamis, Aufmerksamkeit für die Flüchtlinge und den Ort zu schaffen, „der eines Tages vielleicht für das Ende des europäischen Humanismus stehen wird – oder für eine Wende, die der Politik der EU ihr menschliches Antlitz zurückzugeben vermag,“ wie es am Anfang der Reportage heißt. Veröffentlicht wurde der Reisebericht im Online-Magazin „Seinsart“. Alle Etappen sind sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch zu lesen.
Für den Grimme Online Award 2015 nominiert war das Projekt Refugees – 4 Monate, 4 Camps von ARTE, das Zuschauer(innen) einlädt, in der Rolle von Journalist(inn)en virtuell Flüchtlingscamps in Nepal, dem Irak, dem Libanon und Tschad zu erkunden. Hier werden Webvideos mit anderen Medien und Inhalten kombiniert, so dass sich User ihren eigenen Weg durch das Angebot klicken können.
Damit versucht die Web-Doku der Komplexität der Flüchtlingsthematik gerecht zu werden. Durch die aktive Rolle als Journalisten in der Web-Umgebung sind die User herausgefordert, eine Vielzahl von Informationen zu verarbeiten und sich damit Wissen anzueignen. Projektmanager Donatien Huet erklärt zu ‚4 Monate – 4 Camps‘:
„Neben den Beiträgen von Künstlern – Filmemachern, Fotografen, Autoren und Zeichnern – war uns wichtig, auch den Web-Nutzer zu einem Akteur zu machen und ihn nicht mit der bloßen Zuschauerrolle abzuspeisen.“
Graphic Recording
Im Interview mit dem Projektteam von NRW denkt nach(haltig) erklärt Martin Haußmann, Geschäftsführer der bikablo® akademie, der die Aktion mit initiiert hat, die Hintergründe und Ideen von #ourstories und stellt die Methode des „Graphic Recording“ als Kommunikationsmittel vor.
„Gegen das Fremde hilft nur das Kennenlernen“ haben sich engagierte Bewohner(innen) des Kölner Agnesviertels gedacht und haben die Geschichten von Flüchtlingen gesammelt, in denen diese von den Gründen ihrer Flucht und ihren Wünschen für die Zukunft erzählen. Sichtbar wurden die Geschichten des Projekts #ourstories als Plakate rund um die St. Agnes Kirche. Die Gestaltung haben sogenannte „Graphic Recorder“ übernommen, die ansonsten professionell Ergebnisse von Meetings und Konferenzen visualisieren.
Virtual Reality
Mit dem Begriff Virtual Reality assoziiert man zuerst Computerspiele, alternative Universen und Ablenkung. Die Technologie, eine Welt medial als komplette Umgebung darzustellen, in der man sich als Zuschauer und / oder Akteur bewegen kann, lässt sich aber auch nutzen, um tatsächlich existierende und doch völlig fremde Welten abzubilden. So werden nicht nur Informationen aufbereitet und transportiert, sondern auch Gefühle vermittelt, die Verständnis für die Gründe der Flucht und die Situation von Flüchtlingen schaffen.
Die UN hat bereits zwei VR-Umgebungen umsetzen lassen, die ein 360-Grad-Porträt aktueller humanitärer Katastrophen erfassen. In „Clouds over Sidra“ erleben Nutzer(innen) den Alltag der zwölfjährigen Sidra aus Syrien, die mit ihrer Familie nach Jordanien flüchtete und dort eineinhalb Jahre in einem Flüchtlingscamp verbrachte.
Alle Alltagssituationen wie Schulunterricht im Camp sind als Filme dargestellt, in denen Nutzer(innen) navigieren können, um die gesamte Umgebung zu erfassen. Wer eine VR-Brille wie etwa Google-Cardboard nutzt, um die Geschichte zu erleben, sieht die Situationen in 3D und kann sie durch die eigenen Bewegungen erkunden.
VR-Projekte
Einen genaueren Einblick in ihre Idee von „immersive journalism“ und deren Umsetzung gibt Nonny de la Peña in ihrem Vortrag auf dem Magnum Foundation PhotoEx Symposium 2014. Dort spricht sie nicht nur über „Project Syria“, sondern auch über ihre anderen Projekte, wie die Umsetzung der Haftbedingungen in Guantanamo Bay als VR-Umgebung.
Die Dokumentarfilmerin Nonny de la Peña nutzt Virtual-Reality-Technologie für „immersive journalism“, das heißt, sie erzählt handfest recherchierte Geschichten, die durch Computertechnologie zu begehbaren Wirklichkeiten werden.
Ihre Geschichte über den Bürgerkrieg in Syrien beginnt mit Aufnahmen einer realen Bombenexplosion in Aleppo, die sich 2012 ereignete. Danach verwandelt sich „Project Syria“ in eine computergenerierte 3D-Umgebung, die auf realen Bildern, Tönen und Ereignissen basiert.
Diese Umgebung kann von Nutzer(inne)n mit VR-Equipment durchschritten werden. Das Projekt wurde vom Weltwirtschaftsforum in Auftrag gegeben und feierte 2014 in Davos seine Premiere, um die anwesenden Entscheider(innen) davon zu überzeugen, dass in dieser Situation gehandelt werden muss.
Auch das Ankommen und die erste Zeit in Deutschland werden nachvollziehbarer, wenn man einen 360-Grad-Eindruck von der neuen Umgebung erhält: Die ZEIT hat die größte Notunterkunft Berlins, fünf Hallen auf dem früheren Tempelhofer Flughafen, in einer Tour abgebildet, die einen Rundum-Blick in Schlafunterkünfte, Spielflächen, Kleiderkammern etc. für 2.500 Menschen ermöglicht.
Computerspiele
Die wohl bekannteste Computerspielfigur der Welt nutzt ein junger Syrer, um die Flucht nach Europa und ihre Gefahren ganz ohne Worte zu erzählen. In seinem Video „Refugee Mario“, von dem unter anderem die BBC berichtet, ersetzt der Satiriker „Samir Al-Mufti“ Marios Kontrahenten durch Schlepper, die es zu bezahlen gilt. Klassische „Jump-and-Run“-Elemente, wie schwimmende Brücken, die man sicher erreichen muss, stehen für Flüchtlingsbote über das Mittelmeer. Damit erzählt Samir auch den Tod seines besten Freundes, der über das Mittelmeer nach Griechenland fliehen wollte.
Samir lebt mittlerweile in der Türkei, nachdem seine Brüder getötet wurden und er selbst durch seine Beteiligung an Demonstrationen und durch seine Youtube-Parodien von Reden Assads öffentlicher Gegner des syrischen Präsidenten ist.
Dass auch Computerspiele sich zur Gesellschaftskritik eignen, beweist Frontiers. Dieses Game wurde von einem österreichischen Künstlerkollektiv entwickelt und es stellt die Spielerinnen und Spieler vor eine Wahl: Sie können entweder die „Festung Europa“ gegen Flüchtlinge verteidigen oder selbst versuchen, aus Osteuropa oder Afrika in die EU zu gelangen.Interessant ist, dass Frontiers auf dem kommerziellen Ego-Shooter Half-Life basiert, dessen bekannteste Modifikation das Spiel Counter-Strike ist.
Spiele-Designerin Tabea Iseli erklärt, warum die Entscheidung fiel, die Welt von Cloud Chasers zu fiktionalisieren.
Das Spiel “Cloud Chasers – Journey of Hope” einer Schweizer Entwicklerfirma erzählt auf Smartphones die Geschichte der Flucht eines Mädchens und seines Vaters. In diesem Fall wird keine reale Geschichte erzählt, sondern die Flucht in eine fiktive bessere Welt. Dies macht das Spiel gleichzeitig aktuell und zeitlos. Es ist für Android– und iOS-Geräte verfügbar.
Konkret mit dem Syrienkonflikt beschäftigt sich das Newsgame Endgame Syria. Die Kritik an diesem Beispiel zeigt aber auch, dass für die Entwicklung von Newsgames oft nur wenig Zeit bleibt und das Thema deswegen an vielen Stellen vereinfacht werden muss, was dem Vorteil von Games, Komplexität abbilden zu können, zuwiderläuft. Für iOS-Geräte ist das Spiel als „Endgame: Eurasia“ verfügbar, da Apple das Spiel nur ohne klare Referenz zum tatsächlichen Konflikt und seinen Parteien in seinem App-Store zulässt.
Veröffentlicht: Februar 2016
Zuletzt aktualisiert: Januar 2017
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